Als Sachverständiger im Fach Radioagronomie wurde ich im neu geschaffenen Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit unter Minister Walter Wallmann im Mai 1986 beauftragt, die Auswirkung der durch die Reaktorhavarie freigesetzten Radioaktivität auf Boden, Pflanze und Nahrungskette zu beurteilen. Die Bewertung basierte auf Meßdaten der Luftüberwachung und der vor Ort gemessenen Aktivität und Isotopenanalyse, ca. 1 Woche nach dem GAU (Größter anzunehmender Unfall).
Der havarierte Reaktor Block 4, 1984 in Betrieb genommen, ist ein RBMK-Reaktor, ein Hochleistungs-Siedewasser-Druckröhrenreaktor, wassergekühlt und graphitmoderiert, eine Weiterentwicklung der Serie aus den1950-er Jahren. Sie werden zur Stromerzeugung und für militärische Zwecke (Plutoniumerzeugung) genutzt. Sie haben keine druckfeste und gasdichte Hülle und entsprechen nicht den Sicherheitsbestimmungen internationaler Standards kerntechnischer Anlagen.
Am 25.04.1986, gegen 1.00 Uhr kam es infolge von unvorhersehbaren Verkettungen durch menschliche Fehlentscheidungen und technische Probleme zu einem GAU in dem sowjetischen Kernreaktor Block 4 in Tschernobyl. Dieser ereignete sich während eines Testbetriebs, bei dem geprüft werden sollte, ob bei einem Stromausfall und der damit verbundenen Abschaltung des Reaktors die mechanische Energie der Turbinenrotoren bis zum Anlaufen der dieselbetriebenen Notstromaggregate übergangsweise zur Strombereitstellung für den Steuerbetrieb des Reaktors ausreicht. Menschliche Bedienungsfehler und Unkenntnis der im kritischen Bereich agierenden Betriebsmanschaft führten zu dieser Katastrophe. Bereits 1985 wurde dieser Test bei Block 3 durchgeführt und durch das Abfallen der Spannung am Generator abgebrochen. Dieser Test sollte bei Block 4 im April 1986 wiederholt werden, der jedoch mit verheerenden Folgen in einem GAU endete. Vermutungen, dass bei diesem Eingriff vorrangig militärische Optionen im Vordergrund standen, kann weitgehend ausgeschlossen werden. Ein Außerkraftsetzen von Notabschaltungsmaßnahmen ist eigentlich nur im damaligen Machtbereich der Sowjetunion möglich gewesen und zeigt die Manipulationsmöglichkeit in kerntechnischen Bereichen. Deswegen ist es unverhandelbar, nach eigenem Ermessen Sicherheitsstandards festzulegen, die nicht international akzeptiert werden können. Die IAEA (Internationale Atomenergiebehörde) in Wien hat Richtlinien erarbeitet, die für alle Betreiber kerntechnischer Anlagen verbindlich sind. Die Auffassung, dass durch menschliche Fehlbedienung der katastrophale Unfall ausgelöst wurde, wird nicht angezweifelt und damit begründet, dass durch das zu späte und schnelle Einfahren der Abschalt-und Regelstäbe der unkontrollierbare Leistungszuwachs ausgelöst wurde.
Wieviel radioaktives Material in den Reaktortrümmern verblieb, kann nur näherungsweise geschätzt werden und ist mit rund 190 Tonnen Kernbrennstoff zu veranschlagen. Die gasförmigen radioaktiven Spaltprodukte (Krypton und Xenon), leichtflüchtiges Jod und Cäsium wurden größtenteils in die Atmoshäre freigesetzt und wurden entsprechend den meteorologischen Verhältnissen weiträumig verbreitet. Erst Tage später meldeten norwegische Luftüberwachungseinrichtungen einen unerklärbaren Anstieg der o.a. Radioisotope. Warum diese Meldung erst so spät in die Öffentlichkeit gelangte, ist besorgniserregend, denn die amerikanischen Aufklärungssatelliten hatten das Szenario von Anfang an dokumentiert. Diese Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Das aus dem Stegreif entstandene Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit unter Leitung eines Nichtfachmanns Walter Wallmann war auf eine deartige Herausforderung nicht vorbereitet. Es kam daher zu Kompetenzproblemen zwischen BMU und Innenministerium, geleitet von Minister Friedrich Zimmermann. Auch er war kein Fachmann dieser Problematik und versuchte unter dem Druck der damals sich etablierenden Antiatomkraftbewegung Gefahren und mögliche Schäden durch überstürzte Maßnahmen abzuwenden. Meine Aufgabe war es, die durch radioaktiven Niederschlag und Immisionen entstandene Kontamination auf Pflanzen, Boden und Nahrungskette zu bewerten. Bereits in den 50-er Jahren wurde diese Thematik ausführlich behandelt und aufgrund der Erfahrungen aus den beiden Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki ausführlich dokumentiert, so dass eine Abschätzung der Strahlenbelastung ohne große wissenschaftliche und technische Untersuchung möglich war. Die Beaufschlagung mit Cäsium war zwar deutlich erhöht, dennoch bestand bei den sehr niedrig vorgegebenen Grenzwerten, weit unter einer möglichen gesundheitlichen Beeinträchtigung, keine akute Gesundheitsgefährdung. Pilze und Wildtiere im Süden Deutschlands waren davon am stärksten betroffen, jedoch würde erst bei täglichem Verzehr in kg-Mengen der Strahlendosisgrenzwert überschritten. Die natürliche Strahlenexposition in Deutschland, insbesondere in ehemals vulkanischen Gebieten, Mineralwasser aus Tiefengestein, Bims als Baustoff, Langstreckenflüge und vieles mehr haben größere Strahlenwirkung als die als„belastet“ deklarierten Lebensmittel, die damals im großen Stil vernichtet wurden.
Die Notstandsgesetzgebung war der Rahmen aller wissenschaftlicher Untersuchungen und enthielt auch alle Anweisungen zum Verhalten staatlicher Organe. Durch eigenmächtiges und inkompetentes Verhalten der beiden Ministerien kam es zu einer völligen Verunsicherung nachgeschalteter Dienststellen und der Bevölkerung, die bis in die heutige Zeit wirkt und Grund für eine überzogene skeptische Haltung bezüglich wissenschaftlicher Berichterstattung ist.
Die gesundheitlichen Folgen der Tschernobyl-Reaktorhavarie wurden und werden auch heute kontrovers diskutiert und bewertet. Bei 134 Personen der Betriebsmanschaft und Liquidatoren wurde eine akute Strahlenerkrankung diagnostiziert, an der 28 verstarben. In der Bevölkerung der kontaminierten Gebiete konnte dennoch eine Erhöhung der Leukämie-, Schilddrüsen- und Brustkrebsrate nicht statistisch gesichert nachgewiesen werden. Auch andere Erkrankungen, konnten nicht eindeutig auf eine Strahlenexposition zurückgeführt werden. Das liegt möglicherweise auch daran, dass die Gesundheitsvorsorge und die Lebensbedingungen sich durch intensive medizinische Betreuung nach dem Unfall erheblich verbessert haben. Die 28 Todesfälle sind darauf zurückzuführen, dass für die sofort eingesetzte Notmannschaft und später eingesetzten Liquidatoren während ihres Einsatzes unzureichende Schutzmaßnahmen getroffen wurden. Bei der Reaktorhavarie durch den Tsunami in Fukushima hingegen, wurde das Reaktorgelände rechtzeitig verlassen und nach Rückgang der Wassermassen unter hohen Schutzmaßnahmen mit Sanierungsarbeiten begonnen ohne dass ein Todesfall aktenkundig wurde.