Auch radioaktive Elemente sind Teil der „Schöpfung“

Stimmt man Aristoteles zu, der gesagt haben soll: “Die Natur schafft nichts Unnützes und nichts Überflüssiges. Sie hat den Dingen nicht nur ins Dasein verholfen, sondern ihnen auch eine Bestimmung mitgegeben, der sie gehorchen und die sie erfüllen, wenn man sie nur lässt“, dann müssen auch Radioaktivität und ionisierende Strahlung durchaus – wie alles in der Natur – Sinn und Zweck haben. Sie einseitig als Bedrohung zu empfinden, hieße, ihren Nutzen beziehungsweise ihre Bedeutung zu verkennen.

 

Der Mensch lebt seit jeher in einer von natürlichen radioaktiven Elementen (Radionuklide) geprägten strahlenden Umwelt und ist dadurch ständig äußerer wie innerer ionisierender Strahlung ausgesetzt (siehe auch „Radioaktive Strahlung: Der Feind des Menschen?auf dieser Webseite). In allen Gesteinen und Böden finden sich gebietsmäßig sehr unterschiedliche, meist geringe Anteile von Uran, Thorium und Radionuklide ihrer Zerfallsketten wie auch Kalium-40 1). In Deutschland treten überdurchschnittlich hohe Urankonzentrationen in Gesteinen und Böden im Vorland des Erzgebirges und im Erzgebirge selbst, im Fichtelgebirge und in Teilen des Schwarzwaldes auf. Mit der Verwendung der mineralischen Rohstoffe, zum Beispiel in Baustoffen, lassen sich die Radionuklide auch darin nachweisen. Ebenso sind diese Radionuklide in der Kohle enthalten. Mit der Kohleverbrennung werden sie den Rückständen und Nebenprodukten aus der Kohleverstromung zugeführt und gelangen auf diese Weise über beispielsweise Filterasche und Gips aus der Rauchgasentschwefelung in die Baustoffindustrie und in Schlacken, die im Straßenbau verwendet wird. Wo uran- und thoriumhaltige Böden und Gesteine auftreten, sind auch im Grundwasser und Mineralwasser diese Radionuklide und ihre Folgeprodukte anzutreffen.

Des Weiteren werden Radionuklide kontinuierlich durch kosmische Strahlung in der Atmosphäre erzeugt. Dazu zählen unter anderem Tritium, ein Isotop des Wasserstoffs, mit einer Halbwertszeit von 12,34 Jahren, Beryllium-7 mit 53 Tagen, Beryllium-10 mit 1,4 Millionen Jahren und Kohlenstoff-14 mit 6730 Jahren Halbwertszeit. Beryllium und Kohlenstoff spielen bei vielen Datierungsmethoden eine wichtige Rolle.

Wie kam es zur Entstehung der stabilen, also nicht radioaktiven und eben den radioaktiven Elementen, den Radionukliden, in der Erde? Was weiß man darüber?

Entstehungsgeschichte

Die chemischen Elemente, aus denen alle Sterne und Planeten, alle Organismen und auch wir Menschen bestehen, wurden nach heutigen Erkenntnissen in drei Phasen erzeugt. Die erste Phase endete bereits wenige Minuten nach dem Urknall. Bis dahin waren nur die leichtesten Elemente Wasserstoff und Helium sowie in geringen Mengen Lithium und Beryllium entstanden. Danach sanken Temperatur und Dichte im expandierenden Universum so weit, dass keine schwereren Atomkerne mehr gebildet werden konnten 2).

Die zweite Phase der stellaren Nukleosynthese begann einige hundert Millionen Jahre später. Damals bildeten sich durch Gravitationsdruck aus dem Urgas die ersten Sterne. In deren heißen Zentren setzten Kernreaktionen ein, in denen die leichten Elemente Wasserstoff und Helium nach und nach zu schwereren Elementen bis zum Eisen fusionierten. Atomkerne schwerer als Eisen entstanden wegen der hierzu notwendigen größeren Energie im letzten Entwicklungsstadium massereicher Sterne, den sogenannten Roten Riesen, und in gewaltigen Sternexplosionen, den Supernovae 2).  Bei dieser dritten Phase der Nukleosynthese entstehen nun alle weiteren Nuklide bis zu den superschweren Kernen. Da es vom Atomgewicht her jenseits von Blei nur instabile Nuklide gibt, haben seit ihrer Entstehung nur die Radionuklide mit sehr langer Halbwertszeit „überlebt“. Das sind Thorium-232 mit 14 Mrd. Jahren Halbwertszeit, Uran-238 mit 4,48 Mrd. Jahren und Uran-235 mit 0,7 Mrd. Jahren Halbwertszeit. Ferner auch Kalium-40 mit 1,25 Mrd. Jahren.

„Der berühmte Satz: „Wir sind aus Sternenstaub gemacht“ ist daher nicht etwa metaphorisch, sondern im Wortsinn zu verstehen: Jedes Atom schwerer als Beryllium in unserem Körper oder wo auch immer im Universum verdankt seine Existenz der Elementsynthese im Innern der Sterne“ 2).

Erdwärme

Die Erde existiert seit rund 4 Milliarden Jahren. Trotz dieser unvorstellbar langen Zeit herrschen im Erdinnern noch immer bis zu 6.000 0C im – nach neuesten Erkenntnissen festen – Eisen-Nickel-Erdkern. Aktive Vulkane sind ein Beleg dafür, welche enormen Temperaturen in Erdkruste und Erdmantel bis in die heutige Zeit existieren. Es herrschen Temperaturen zwischen einigen 100 0C an der Mantelobergrenze und über 3500 0C an der Mantel-Kern-Grenze 3) bei etwa 2900 km Tiefe. Beim zeitlichen Temperaturverlauf dominierte die Kinetik des radioaktiven Zerfalls. Daneben trugen in der Frühzeit der Erdgeschichte die Kristallisationswärme und der durch gravitative Kräfte verursachten Schrumpfung zur Erwärmung der Erde bei.

Noch heute stammt der größere Teil der Wärmeleistung aus dem radioaktiven Zerfall der zuvor genannten langlebigeren Radionuklide im Erdmantel. Der Beitrag jedes Radionuklids errechnet sich aus der Zerfallsenergie und der Zerfallsrate. Konzentrationen im Mantel sind der Messung nicht zugänglich (die größte bisher erreichte Bohrtiefe liegt bei ca. 12,5 km), sondern werden aus Modellen der Gesteinsbildung geschätzt. Hiernach wurden für Uran-238 eine Gesamtmenge von 1017 kg und für Thorium-232 eine Gesamtmenge von 4 x 1017 kg ermittelt. Die Zerfallsenergien dieser Radionuklide liefern eine Leistung im Bereich von 20 Terawatt (TW) und zusammen mit 6 x1016 kg Kalium-40 im Bereich von 25 TW. Diese Leistung entspricht 20.000 bis 30.000 Kernkraftwerken mit je 1 GW elektrischer Energie 3)4).

Radon-Therapie

Da das Augenmerk dieses Artikels auf natürlich vorkommende Radionuklide gerichtet ist, darf der Hinweis auf die Anwendung des durch Uran-Zerfall erzeugten Radons in der Medizin nicht fehlen. Schon seit über 100 Jahren werden in bestimmten Bereichen der Humanmedizin Radon-Therapien 5) genutzt. „Mit den Kräften der Natur gegen Schmerz bei Rheuma“ wirbt zum Beispiel Bad Kreuznach im Internet für die Radon-Therapie. Aber auch in Bad Schlema am Erzgebirge, im tschechischen Karlsbad und Marienbad wie auch in Bad Gastein in Österreich werden die natürlich auftretenden Radon- Emissionen aus der Erdkruste für Therapiezwecke genutzt.

Radon wird im Blutkreislauf transportiert und im Gewebe gelöst. Physikalische Zerfallsprozesse setzen im zellulären Bereich energetische Impulse frei, welche Linderung und/oder Heilung bewirken können. Rechnerisch liegen die Werte für die zusätzliche Strahlenexposition des Patienten bei der Therapie im Bereich der natürlichen jährlichen Strahlenexposition. Auch wenn die genauen Wirkungsweisen auf zellulärer Ebene noch immer nicht vollständig verstanden werden, untermauern neueste Studien den Nutzen, den die, soweit bekannt, nebenwirkungsfreie Radon-Therapie im Vergleich zur medikamentösen Therapie für den Patienten hat. Zwar wird ein möglicher Nutzen durchaus kontrovers diskutiert, doch gleichwohl setzen sich allein in Deutschland Tausende Kurgäste jährlich im Rahmen dieser Radon-Therapie ionisierender Strahlung aus 6).

Evolution

In der Evolutionswissenschaft werden Radioaktivität und ionisierende Strahlung Einfluss auf die Evolution zugeschrieben. Evolution, das ist die allmähliche Veränderung der vererbbaren Merkmale einer Population von Generation zu Generation. Sie basiert auf dem Zusammenwirken von genetischer Vielfalt, der Veränderung von Erbanlagen (Erzeugung von Mutationen) mit einer natürlichen Selektion, bei der es um Auswahl und Anpassung an ein gegebenes Umfeld geht.

Nun haben sich zwar im Lauf der Evolution wegen der ständig anwesenden natürlichen Strahlenexposition und der spontanen Mutationen sehr effektive Reparaturmechanismen ausgebildet, die molekulare Veränderungen der DNS erkennen und imstande sind, diese enzymatisch gesteuert in den meisten Fällen wieder rückgängig zu machen (im Zellplasma finden sich zudem Substanzen, die durch z.B. Strahlung gebildete chemische Radikale neutralisieren können, bevor sie einen Schaden an der DNS oder den Zellorganellen anrichten) 7), aber andererseits sind Änderungen der genetischen Information die treibenden Kräfte der Evolution. Die dafür notwendigen Mutationen entstehen teils spontan, teils durch Fehler bei Vervielfältigung der DNS (Replikationen), durch äußere Einflüsse wie ionisierende Strahlung oder chemische Agenzien oder/und Versagen von Reparaturmechanismen. Auf diese Weise ergibt sich in der Natur ein Interessenskonflikt: Auf der einen Seite bestehende genetische Gegebenheiten zu erhalten und auf der anderen Seite für die Evolution notwendige Mutationen zuzulassen. Wie groß der Anteil der ionisierenden Strahlung am Evolutionsprozess ist, kann keiner genau sagen und wird vielleicht auch immer ungeklärt bleiben.

Naturreaktor-Phänomen

In den Uran-Abbaugebieten von Oklo im afrikanischen Staat Gabun entdeckte man 1972 ein Naturphänomen. Dort war an mehreren Stellen in der oberflächennahen Erde über etliche Hunderttausend Jahre lang Uran wie in einem Reaktor gespalten worden. Uran-Kerne können nicht nur radioaktiv zerfallen, sondern sich in seltenen Fällen unter geeigneten Bedingungen unter Aussendung von Neutronen spontan spalten.

Für ein derartiges Ereignis müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Zunächst musste die Uran-Konzentration im Gestein hinreichend hoch sein. Im technischen Jargon ist vom Vorhandensein einer kritischen Masse die Rede. Des Weiteren war Wasser notwendig, es bremst die Neutronen auf eine für die Spaltung des Uran-235 notwendige Energie ab.  Als Grundwasser in die Uranvorkommen von Oklo eindrang, setzte dadurch eine auf natürliche Weise kontrollierte nukleare Kettenreaktion ein. Die Kettenreaktion war ein zyklischer Vorgang: Etwa 30 Minuten lang bremste das Wasser die Neutronen auf die für die Spaltung notwendige Energie ab, dabei erhitzte es sich und verdampfte. Ohne Wasser kam die Kettenreaktion zum Stillstand. Erst als nach wenigen Stunden Wasser nachgelaufen war, setzte die Kettenreaktion erneut ein und der Zyklus begann erneut. In Wikipedia 8) wird die thermische Leistung des Reaktors mit 100 kW angegeben. Im Zuge dessen seien insgesamt etwa 10 Tonnen Uran-235 gespalten und aus Uran-238 etwa vier Tonnen Plutonium erbrütet worden. Der natürliche selbsterhaltende Spaltungsprozess fand ein Ende als der natürliche Isotopenanteil von Uran-235 zu gering wurde. Insgesamt seien dabei eine Energie im unteren dreistelligen Terawatt-Stunden-Bereich erzeugt worden. Die Natur machte dem Menschen den Kernreaktorbau vor.

Für die moderne Wissenschaft lieferte der Naturreaktor interessante Rückschlüsse, wie sich die radioaktiven Zerfallsprodukte in der Natur innerhalb extrem langer Zeiträume ausbreiten, was im Hinblick auf die Endlagerung radioaktiver Abfälle von Bedeutung ist.

 

1) Die Zahl nach dem Nuklid gibt die Summe der Protonen und Neutronen im Nuklidkern an. Instabile Nuklide, also Radionuklide, zerfallen durch Elektroneneinfang, Aussenden vom Alpha- oder Beta-Teilchen oder von Gamma-Strahlen. Beim Alpha-, Beta-Zerfall oder Elektroneneinfang entsteht aus dem zerfallenden Nuklid ein anderes Nuklid, so zum Beispiel entsteht aus Tritium Helium oder Kalium-40 zerfällt in Argon (Elektroneneinfang) und Calcium (Beta-Strahlen). Während etliche Radionuklide durch nur einen Zerfallsvorgang in stabile Nuklide überführt werden, treten bei Uran und Thorium Zerfallsketten auf, ehe die stabilen Nuklide erreicht werden. Die Urankette zum Beispiel hat 20 Zerfallsschritte mit dem stabilen Blei-206 am Ende. Zwei der radiologisch bedeutsamen Zerfallsprodukte sind Radium-226, das mit einer Halbwertszeit von 1260 Jahren in Radon-222 mit einer Halbwertszeit von 3,82 Tagen zerfällt.

2) www.weltderphysik.de

3) www.de.wikipedia.org/Erdmantel

4) Voelkle, H. Strahlenschutzpraxis 23.Jg. 2017 Heft 1, S.27ff

5) www.de.wikipedia.org/wiki/radonbalneologie

6) Spruck, K. Strahlenschutzpraxis 23. Jg. 2017 Heft 1, S.36ff

7) Krieger, H. „Strahlenphysik, Dosimetrie und Strahlenschutz“, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH

8) www.de.wikipedia.org/Naturreaktor_Oklo