Sinn, Zweck und Verdienste des EURATOM-Vertrages

Gemäß einer am 9. April 2019 veröffentlichten Mitteilung will die Europäische Kommission untersuchen, wie die Rolle des Parlaments geändert werden kann, um «die demokratische Legitimität der Beschlussfassung im Rahmen von EURATOM zu verbessern». Die Europäische Kommission beabsichtigt dazu, in den kommenden Monaten eine hochrangige Sachverständigengruppe einzusetzen, die sich mit der Weiterentwicklung des EURATOM-Vertrags befassen soll. Sie betonte jedoch, dass es sich um ein langfristiges Projekt handle, das erst nach 2025 Ergebnisse zeigen werde. Die Europäische Kommission hat die Staats- und Regierungschefs der EU aufgefordert, sich aktiv an einer Überarbeitung zu beteiligen.

«Der EURATOM-Vertrag bildet den weltweit fortschrittlichsten Rechtsrahmen für die Bereiche nukleare Sicherheit, Abfallentsorgung und Strahlenschutz», so die Mitteilung der Kommission weiter. Allerdings werde allgemein anerkannt, dass der EURATOM-Vertrag im Einklang mit einer geeinteren, stärkeren und demokratischeren EU weiterentwickelt werden müsse. «Ein zentraler Aspekt ist dabei die demokratische Rechenschaftspflicht der Europäischen Atomgemeinschaft und insbesondere die Einbeziehung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente.»

Der EURATOM-Vertrag dürfte in der Öffentlichkeit wenig bekannt sein. Umso wichtiger ist es, Sinn, Zweck und Verdienste des Vertrages bewusst zu machen:

Am 25. März 1957 wurde in Rom neben dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) unterschrieben. Die „Römischen Verträge“ gelten als Gründungsdokumente der Europäischen Union.

Warum ein EURATOM-Vertrag? Vereinfacht formuliert kann man sagen, dass der EURATOM-Vertrag geschlossen wurde, weil den europäischen Ländern die Kohle ausging und sie nach einer neuen Energiequelle suchten. EURATOM sollte gewissermaßen die Folgeversion der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) werden. Wie die EGKS ging auch der Vorschlag für EURATOM auf die Initiative von Jean Monnet zurück.

Noch heute steht in der Präambel *) des Vertrages,

„dass Kernenergie eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt darstellt“,

was einigen Parteien in Deutschland seit längerem missfällt und sie auf Änderungen drängen.

Seit Bestehen des Vertrages von Lissabon ist EURATOM strukturell aus der Europäischen Union (EU) ausgegliedert und besteht seither als eigenständige Gemeinschaft mit einem eigenen Grundlagenvertrag und einer eigenen Rechtspersönlichkeit. Die institutionelle und finanzielle Verflechtung zwischen EURATOM und der EU wurde dabei nicht aufgehoben.

Die Erwartung, dass EURATOM nationale Kernenergieprogramme initiiert, koordiniert und durchführt, wurde zwar nicht erfüllt. Nicht zuletzt deshalb, weil die Mitgliedsstaaten Eigeninteressen in der Kernenergiepolitik verfolgten. Vielmehr aber trug EURATOM ganz entscheidend bei zur Entwicklung verbindlicher Normen

  • für die Sicherheit bei Planung, Bau und Betrieb von Kernkraftwerken. Die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten auf der Ebene, der für die kerntechnische Sicherheit verantwortlichen Behörden, werden von der EURATOM koordiniert,
  • für den Schutz der Bevölkerung und der Beschäftigten in der Kernindustrie vor den Gefahren ionisierender Strahlen, unter anderem sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, regelmäßig einen Bericht über die Strahlung in der Umwelt, über Messverfahren und über Begrenzung der Kontamination in Lebensmitteln zu erstellen,
  • für die Spaltmaterialüberwachung (Safeguards) zur Vermeidung der widerrechtlichen Abzweigung von Kernmaterial (Proliferation).

Die Bestimmungen zum Gesundheitsschutz, zur Sicherheit und zum Safeguardssystem, das die Verwendung des Spaltmaterials kontrolliert, sind von zentraler Bedeutung für die Nutzung der Kernenergie auf hohem Sicherheitsniveau in den EURATOM-Vertragssstaaten. Dies gilt umso mehr, da die EU-Kommission für die EU-Mitgliedsstaaten Aufgaben zur Erfüllung von Bestimmungen im Zusatzprotokoll gemäß INFCIRC/540 übernommen hat.

Ferner wird im Rahmen des EURATOM-Vertrages durch die Europäische Versorgungsagentur (ESA) die Versorgung der Gemeinschaft mit Kernbrennstoffen durch Gewährleistung eines einheitlichen Zugangs zum Kernmaterial, der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Kernmaterialanbieter sowie die Diversifikation der Bezugsquellen sichergestellt. Was manchem überraschend vorkommen mag: EURATOM ist formal Eigentümerin des bei den Mitgliedsstaaten für friedliche Zwecke eingesetzten Kernmaterials, nicht aber Besitzerin.

Auch die gemeinschaftliche Forschungsförderung und der Abschluss von Kooperationsvereinbarungen zwischen der EURATOM und Drittstaaten zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit auf dem nuklearen Sektor sind Verdienste des EURATOM-Vertrages, die im Interesse der europäischen kerntechnischen Industrie aufrecht erhalten werden sollten. Es bestehen z.B. internationale Kooperationsabkommen mit den USA, Australien, Kanada, Usbekistan, Japan und Kasachstan.

Dem Sinn einer Vertragsgemeinschaft im allgemeinen und dem Zweck der EURATOM-Gemeinschaft im besonderen würde es widersprechen, wenn diejenigen Mitgliedstaaten des EURATOM-Vertrages, die die Kernenergie nicht oder auf Dauer nicht mehr nutzen wollen, über eine Änderung oder Abschaffung des EURATOM-Vertrages versuchen, andere, die Kernenergie nutzende Mitgliedstaaten der EU ebenfalls zum Ausstieg aus der Kernenergie zu zwingen.

 

*) In der Präambel erklären die Vertragsparteien ferner im Übrigen:

  • „In dem Bewusstsein, dass die Kernenergie eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt darstellt, …
  • entschlossen, die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaffen, welche die Energieerzeugung erweitert, die Technik modernisiert und auf zahlreichen anderen Gebieten zum Wohlstand ihrer Völker beiträgt,
  • in dem Bestreben, die Sicherheiten zu schaffen, die erforderlich sind, um alle Gefahren für das Leben und die Gesundheit ihrer Völker auszuschließen,
  • in dem Wunsch, andere Länder an ihrem Werk zu beteiligen und mit den zwischenstaatlichen Einrichtungen zusammenzuarbeiten, die sich mit der friedlichen Entwicklung der Kernenergie befassen …”.