Am 9.11.2022 fand im Deutschen Bundestag eine öffentliche Anhörung zu dem Entwurf eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes (19. AtGÄndG) statt.
In der Situationsbeschreibung heißt es:
„Die Bundesregierung und die Fraktion der CDU/CSU reagieren mit ihren
Gesetzentwürfen auf eine objektiv feststellbare Gefährdungslage der
Sicherheit des Elektrizitätsversorgungssystems im Winter 2022/23 und
darüber hinaus. Neben anderen Maßnahmen soll daher auch eine befristete
Verlängerung des Leistungsbetriebs der drei derzeit am Netz befindlichen
Kernkraftwerke Emsland, Neckarwestheim-2 und Isar-2 gesetzlich festgelegt
werden. Die Bundesregierung möchte diesen Betrieb bis spätestens 15.04.
2023 befristen und legt die Anlagen auf die Nutzung der vorhandenen
Brennelemente fest (Streckbetrieb über das Ende des natürlichen
Reaktorzyklus hinaus), der Entwurf der CDU/CSU sieht einen Weiterbetrieb
bis mindestens 31.12. 2024 vor, der in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag
mit den Betreibern geregelt wird und die Beschaffung frischen
Kernbrennstoffs voraussetzt.“
Einer der geladenen Experten war Ulrich Waas*). Seinen Bericht über die Anhörung brachte die Berliner Zeitung [1] am 13.11.2022:
Am Freitag, den 11. November, beschloss die Ampel nach monatelangem Kampf in der Koalition, den Atomausstieg auf den 15. April 2023 zu verschieben. Viele glauben oder wollen glauben, dass damit die Diskussion beendet sei. Aber kann eine Diskussion beendet sein, die noch gar nicht ehrlich geführt wurde?
Minister Habeck hatte zwar noch im Februar angekündigt: „Es gibt keine Denktabus.“ Aber tatsächlich waren die Denktabus in den zuständigen Ministerien weiterhin prägend, wie kürzlich durch Recherchen [6] enthüllt wurde. Und diese Taktik des „Nichts Kritisches hören, nichts wissen wollen“ in der Grünen-Energiepolitik hält immer noch an. Zu einer Sitzung des zuständigen Bundestagsausschusses waren im Vorlauf zur Parlamentsentscheidung noch einmal Fachleute zu einer Anhörung geladen. Nur konnte bei dieser Anhörung nichts Substanzielles herauskommen. Dafür war sie nicht ausgelegt.
Die Anhörung am 9. November war für 105 Minuten angesetzt, von der Regierungskoalition wurden fünf Sachverständige benannt, von der CDU/CSU vier. Jeder Sachverständige konnte ein schriftliches Statement vor der Anhörung einreichen, das auf der Webseite des Umweltausschusses [2] im Bundestag verlinkt wurde. In der Sitzung bekam jeder nur Raum für ein dreiminütiges Eingangsstatement, mit der Möglichkeit von Nachfragen durch Bundestagsabgeordnete. Nachfragen unter den Sachverständigen selbst waren nicht erlaubt, das heißt selbst „wilde“ Behauptungen durften nicht kommentiert werden.
Die Bundestagsabgeordneten, insbesondere diejenigen der Regierungskoalition, fragen nur die von ihrer Seite benannten Sachverständigen, die das sagen, was zur Bestätigung der vorhandenen Meinung dient. Dies gehört anscheinend zum Konzept, offensichtliche Probleme der jetzigen Energiekrise zu ignorieren, sie totzuschweigen, selbst wenn diese von anderen in der Anhörung angesprochen werden:
- Wie kann etwa ein Beitrag von mehr als 50 Prozent zur Stromversorgung mit Wind und Sonne praktisch realisiert werden, wenn weit bis ins nächste Jahrzehnt keine ausreichende großtechnische Energiespeicherung abzusehen ist? – Dazu keine Antwort, kein Interesse an einer Diskussion seitens der Ampel.
- Bisher war als Ersatz für die fehlende Speichermöglichkeit ein massiver Zubau von Gaskraftwerken vorgesehen. Wenn es dafür jetzt kein Gas mehr gibt, soll man dann zum Schließen der Lücke hauptsächlich auf die Wiederinbetriebnahme alter Kohlekraftwerke setzen, aber alle noch nutzbaren KKW abschalten? – Keine Diskussion, was das Setzen auf Kohle bedeutet, in den Abwägungen des Gesetzentwurfs der Ampel kommt das Thema Klima gar nicht vor.
- Will die Ampel wirklich in Kauf nehmen, dass die CO2-Emissionen mit dem von Habeck eingeschlagenen Kurs wieder deutlich zunehmen, obwohl mit jedem weiterbetriebenen KKW jährlich bis zu 11 Millionen t CO2 eingespart werden könnten? – Es gibt zwar ausweichende Blicke, aber keine Antwort, keine Diskussion.
- Eine Untersuchung für die „Wirtschaftsweisen“ hat jetzt ergeben, dass mit dem Weiterbetrieb der KKW der Strompreis im Bereich von 10 Prozent [3] sinken könnte. Die von der Ampel so geschätzte Sachverständige Claudia Kemfert meint dagegen in der Anhörung, ihre Berechnungen ergäben lediglich 0,5–0,8 Prozent. Wie ließe sich ein so hoher Unterschied zu den „Wirtschaftsweisen“ erklären? – Seitens der Ampel keine Nachfrage dazu, keine Diskussion.
- Das Wirtschaftsministerium setzt darauf, dass im kommenden Winter mit den vorhandenen Planungen kritische Situationen in der Energieversorgung vermieden werden könnten und dass ab April auch ohne KKW keine Probleme aufträten. Aber wie weit decken die Planungen erkennbare Risiken ab? Gegenwärtig deckt Norwegen 30 Prozent des Gasverbrauchs in Deutschland – was ist, wenn es in den Pipelines ähnliche Schäden wie bei Nord Stream 1 gibt? Wird nach den russischen Angriffen auf Kraftwerke noch Strom für Ukraine benötigt? Wie können Engpässe auf dem Weltmarkt für Gas ausgeschlossen werden? Ist es da klug, vorhandene Kapazitäten in Deutschland abzuschalten? – Auch hier keine Antworten, keine Diskussion.
Statt sich der Diskussion dieser Fragen zu stellen, die für die Bewältigung der Energiekrise wichtig sind, weicht die Ampel mit den von ihr benannten Sachverständigen darauf aus, gebetsmühlenartig z. T. längst widerlegte Behauptungen über Probleme bei der Kernenergienutzung zu wiederholen:
- Claudia Kemfert behauptet schon in ihrem schriftlichen Statement, dass AKW unflexibel und deshalb nicht mit volatiler Energieerzeugung aus Wind und Sonne kombinierbar seien und deren Ausbau behindere. Das ist zwar seit über 15 Jahren durch die Praxis widerlegt, wie jeder durch Blick auf die Leistungskurven sehen kann, mit denen KKW bei Bedarf die Schwankungen von Wind und Sonne ausgleichen. Aber diese falsche Behauptung ist den Grünen anscheinend so wichtig, dass Frau Kemfert diese in der Anhörung noch viermal bringt. Aktuelle Berichte [4], dass die Kombination gut funktioniert, werden ignoriert.
- Hinsichtlich Sicherheit müsste es wegen des Weiterbetriebs der drei KKW in Deutschland um spezifische Fragen oder Probleme bei diesen gehen. Dazu kam aber kaum etwas – es wurde fast nur über KKW im Ausland gesprochen, Tschernobyl, Fukushima, Saporischschja, Korrosion in französischen KKW, ohne jegliches Interesse daran, ob das jeweils auf die Situation und Technik der KKW in Deutschland übertragbar ist. Hinweise, warum konkret die Übertragbarkeit nicht gegeben ist, werden ignoriert.
- Das praktisch einzige genannte Bedenken, das für die drei KKW spezifisch ist: Es sei 2019 keine Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) durchgeführt worden. Herr Smital von Greenpeace begründete die Bedeutung der PSÜ mit dem Verweis auf Fälle von Spannungsrisskorrosion in französischen KKW, die dort im Rahmen einer PSÜ gefunden worden seien. Da während der Anhörung keine Diskussion zwischen den Sachverständigen zugelassen war, sprach der Autor Herrn Smital nach der Anhörung an: In Deutschland würden Prüfungen, ob es eine Rissbildung gibt, regelmäßig bei Revisionen/Brennelementwechseln durchgeführt, deshalb seien bei uns diese Prüfungen nicht Teil der PSÜ. Somit wüssten wir aktuell auch ohne PSÜ, dass die betreffenden Rohrleitungen in Ordnung seien. Herrn Smitals Antwort: „Das wusste ich nicht.“ – Was soll man dazu noch sagen?
- Mycle Schneider, anscheinend zuständig für die global-galaktischen Behauptungen, trägt vor, dass außer in autokratischen Ländern wie China die Kernenergienutzung überall auslaufe. Dafür muss er natürlich verschweigen, wie es bei den Nachbarn in Europa aussieht: In Finnland, Schweden, Belgien und den Niederlanden sind vieljährige Laufzeitverlängerungen von KKW vorgesehen, teilweise treten selbst Grüne mit Blick auf das CO2-Problem für den Weiterbetrieb ein. In den Niederlanden, Polen, Frankreich werden Neubauprojekte angegangen. Darf so etwas gar nicht mehr wahrgenommen werden?
- Und warum nach 34 Jahren sehr erfolgreichen Betriebs der drei KKW (insgesamt mehr als 1000 Milliarden kWh geliefert) nun eine Begrenzung des Weiterbetriebs auf wenige Monate so wichtig sein soll, wird natürlich auch nicht diskutiert.
Dabei wäre es doch ganz einfach: Wenn die Fragen zur Bewältigung der Energiekrise offen und befriedigend beantwortet und diskutiert werden könnten und die Energiewende mit Wind und Sonne so problemlos verliefe, wie Jürgen Trittin und Claudia Kemfert [5] seit 20 Jahren immer wieder versprechen, müsste man wirklich nicht mehr über den Weiterbetrieb von KKW reden.
Aber offensichtlich ist die Beantwortung der Fragen nicht so einfach, sonst würde die Diskussion dazu nicht so gescheut. Doch kommen wir einer Beantwortung dieser Fragen dadurch näher, dass wir nur die Behauptungen zur Kernenergie diskutieren, die oft lediglich konstruiert sind? Landen wir damit nicht in einer ignoranten Energiepolitik?
Die „Zeitenwende“ sollte doch Anlass sein, sich auch mit lang gehegten Meinungen einer offenen und kritischen Diskussion zu stellen. Leider haben Habeck & Co im März 2022 die Chance nicht genutzt, eine zukunftsorientierte Debatte anzustoßen, sondern auf die Taktik gesetzt „Augen zu und durch, koste es die Gesellschaft, was es wolle“. Das erinnert an die Fehler, die KKW-Euphoriker vor rund 40 Jahren begangen haben, als ebenfalls berechtigte Fragen aus Gesellschaft und Fachwelt mit konstruierten Behauptungen abgetan wurden. Schade.
[1] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/gastbeitrag-experte-ulrich-waas-atomausstieg- die-letzte-akw-anhoerung-im-bundestag-wo-energie-fachleute-zu-statisten-wurden-li.286394
[2] https://www.bundestag.de/ausschuesse/a16_umwelt/anhoerungen/918490-918490 [3]https://www.wirtschaftstheorie.rw.fau.de/files/2022/10/Kurzstudie_Mobilisierung_Erzeugungskapazitaeten_Preiseffekte_2022.pdf
[4] https://www.nzz.ch/meinung/warum-die-energiewende-nur-mit-atomkraft-funktioniert-ld.1710692
*) Zum Autor: Nach dem Physik-Diplom 1975 ging Ulrich Waas zur KKW-Sparte der Kraftwerk Union AG (KWU), damals gemeinsames Tochterunternehmen von Siemens und AEG. Nach Tätigkeiten in verschiedenen Fachabteilungen war er von 1992 bis zur Pensionierung 2012 Leiter der Abteilung, die beim KKW-Erbauer unter anderem für einen wesentlichen Teil der gegenwärtig diskutierten Periodischen Sicherheitsüberprüfung zuständig war. Anfang 2005 wurde Waas zum Einbringen seiner Fachkenntnisse in Sicherheitsfragen bei KKW vom Bundesumweltministerium in einen Ausschuss der Reaktor-Sicherheitskommission berufen, von Anfang 2010 bis Ende 2021 in die RSK selbst. Ulrich Waas nahm auf Einladung der CDU/CSU an der öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz teil.