Industrie mitschuldig an Klimakosten?

Die harten Vorwürfe des Ex- Ministerialdirektors

Die Welt berichtete am 21.10 2024  über Vorwürfe des ehemals führenden Beamten des Wirtschaftsministerium, Werner Ressing, an dem Industrieverband BDI, in der Vergangenheit  “zu wenig Rückgrat gezeigt zu haben”.

Deutschlands Industrie baut ab: Zehntausende Jobs sind schon gestrichen, die Produktion wird zurückgefahren, Firmen wandern ab. „Die Daten zeigen alle nach unten“, sagte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, jüngst in einem Interview mit dem Fernsehsender NTV: „Dem müssen wir uns stellen.“ Von der Politik fordert Russwurm „ein bezahlbares Energiesystem.“

Russwurm mahnt und warnt zu Recht. Nur: Wo war der BDI, als mit der Atomkraft die größte CO₂-freie Stromquelle abgeschaltet wurde? Wurde Widerspruch zu immer schärferen Treibhausgasquoten und Klimaabgaben laut? Äußerte die Industrie hörbar Bedenken gegen immer ambitioniertere, wettbewerbsverzerrende nationale CO₂-Sparziele?

Einem langjährigen, intimen Kenner der deutschen Industrie- und Klimapolitik platzt jetzt der Kragen: Werner Ressing, Ministerialdirektor a.D., hatte als Referatsleiter und schließlich Chef der zentralen Abteilung IV, Industriepolitik, im Bundeswirtschaftsministerium die Geburtsstunde der deutschen Klimapolitik nicht nur erlebt: Er verhandelte im Auftrag der Bundesregierung wichtige klimapolitische Meilensteine der deutschen Wirtschafts- und Klimagesetzgebung mit. In einem zornigen Brandbrief an den BDI-Präsidenten wirft Ressing dem Industrieverband vor, der früh absehbaren Entwicklung nicht entschlossen genug Einhalt geboten haben.

Ressing, zuletzt Unternehmensberater, hatte in führender Position nicht nur Einblick in die klima- und industriepolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, sondern gestaltete sie als Teil der Exekutive mit, darunter die Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft zur CO₂-Reduktion von 1995, die Klimavereinbarung des Jahres 2000, die Ökosteuer-Befreiung der energieintensiven Industrie 2005 bis hin zur Strompreiskompensation von 2013.

„Dass die Klimapolitik so ins Irreale abgleiten würde, hätte ich nie für möglich gehalten“, schreibt Ressing nun in seinem Brandbrief an den „sehr geehrten Professor Russwurm.“ Sein Schreiben an den BDI-Präsidenten liegt WELT vor. „Schon zu meinen aktiven Zeiten habe ich dem BDI immer gesagt, er muss mehr Rückgrat zeigen!“ Heute müsse er „dieses Rückgrat erneut einfordern.“

Anlass für den Brandbrief ist die Aussage Russwurms im Fernsehsender NTV. „Sie haben dort die Klimaneutralität für 2045 als alternativlos bezeichnet“, kritisiert Ressing. „Ich kann darüber nur den Kopf schütteln. Warum ist sie alternativlos?“

„In dieser Republik stimmt nichts mehr“

Tatsächlich verfolgt die Bundesregierung trotz des Atomausstiegs weiterhin das Ziel, fünf Jahre früher als der Rest Europas Klimaneutralität zu erreichen. Der langjährige Abteilungsleiter des Wirtschaftsministeriums kommentiert dies im Schreiben an den BDI-Präsidenten mit Sarkasmus: „In dieser Republik stimmt nichts mehr, die Brücken marode, die Straßen marode, die Schulen marode, aber wir retten mit 1,8 Prozent Anteil an den CO₂-Emissionen die Welt.“

Er sei nach seinem Ausscheiden aus dem Amt als Unternehmensberater „bis zur Pandemie jedes Jahr in China gewesen“, so Ressing: „China fährt eine eiskalte, klare Strategie und lacht über uns.“ Das „Wall Street Journal“ habe die Energiewende als die „dümmste Energiepolitik der Welt bezeichnet“, heißt es in seinem Schreiben weiter: „Wer würde widersprechen? Ich hatte den Mut, 2011 bei einem industriepolitischen Frühstück des BDI die Dinge beim Namen zu nennen und habe damit meinen Rausschmiss als politischer Beamter riskiert.“

Dem wichtigsten Lobbyverband der Industrie gibt Ressing eine Mitschuld an den aktuellen Problemen: Als die Ampel-Koalition und ihre Vorgängerregierung den weiteren Anstieg der Strompreise auslöste, „hat der BDI schweigend zugesehen.“

Es sei „an der Zeit, dass der BDI für das steht, was er ist: Die Stimme der gesamten Industrie“, glaubt Ressing: „Viele Unternehmer warten auf einen starken BDI, der er einmal war.“ Doch das letzte Mal, dass der Verband mit einer Stimme gesprochen habe, sei „1998 bei der Einführung der Ökosteuer gewesen“, kritisiert Ressing. Es könne im Verband „nicht immer um den kleinsten gemeinsamen Nenner gehen, denn wir sind – noch – eine Exportnation.“ Der BDI dürfe „nicht immer im Mainstream der öffentlichen Meinung schwimmen.“

Auf Nachfrage von WELT wollte der Bundesverband der Deutschen Industrie das Protestschreiben nicht kommentieren.

Selbst langjährigen Beobachter des Geschehens fällt es schwer, schreibt Daniel Wetzel weiter,  sich an kritische Stimmen aus der organisierten Industrie zu erinnern. „Wir stehen zu den Zielen der Energiewende“, hieß es stets am Anfang fast aller politischen Statements der führenden Industrielobbyisten. Meist folgte dann ein kleines „aber“: Die „Rahmenbedingungen“ müssten halt stimmen.

Gemeint waren damit Privilegien: Solange die Politik die großen Industriebetriebe von EEG-Umlagen und Netzentgelten befreite, durfte sie klimapolitisch so ambitioniert sein, wie sie nur wollte. Das Abstellen der großen Stromquelle Kernkraft wollte man als „gesellschaftlichen Konsens“ industrieseitig nicht infrage stellen. Dass sich freilich alsbald ein neuer gesellschaftlicher Konsens über die Notwendigkeit von sicheren Arbeitsplätzen und bezahlbaren Energiepreisen einstellen würde, hatte man nicht kommen sehen.

Stattdessen hatten einige Wirtschaftsführer kein Problem damit, antikapitalistisch denkende Klimaaktivisten wie Greta Thunberg öffentlich als Vorbild zu loben. Den symbolischen Höhepunkt der Anbiederung markierte das Angebot des früheren Siemens-Chefs Joe Kaeser, die Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer zum Aufsichtsrat von Siemens Energy zu machen.

Heute ist das Klagen allerdings groß: Netzentgelte, Stromkosten, Wasserstoff-Zuschüsse: Der Bundeshaushalt gibt nicht mehr genug her, um die Industrie vor den finanziellen Lasten der grünen Transformation zu schützen.

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