Fragt man den Mann/die Frau auf der Straße, woher denn der so nachgefragte “Ökostrom” komme, könnte eine Antwort lauten „aus der Steckdose“, „von meinem Stromanbieter“ oder auch „das weiß ich nicht“. Während die erste Antwort zwar richtig, aber trivial ist, kann die zweite Antwort richtig, aber auch falsch sein. Richtig ist sie nur, wenn der Stromanbieter tatsächlich nur “Ökostrom” erzeugt und der Kunde in enger räumlicher Nähe wohnt, denn Strom nimmt immer den Weg des geringsten elektrischen Widerstandes.
Falsch wäre die Antwort, wenn zum Beispiel ein Haushalt in Bonn seinen “Ökostrom” von den Stadtwerken Flensburg bezöge. Denn mit dem Strom ist es so wie mit einem großen See, der aus vielen Zuflüssen gespeist wird und viele Abflüsse hat. Kraftwerke, egal ob fossil oder nuklear, Windkraftanlagen, Biomassekraftwerke und Photovoltaikanlagen speisen diesen „Stromsee“ – Haushalte, Gewerbebetriebe, Industrie etc. entnehmen aus ihm Strom. Aus der Steckdose kann also beispielsweise nicht reiner Kohle- oder Solarstrom fließen, sondern nur ein „Strom-Mischmasch“, der so genannte “Strom-Mix”. Strom kann also nur bei seiner Einspeisung, aber nicht mehr bei seiner Entnahme aus dem Netz unterschieden werden. Was ist nun “Ökostrom”? Eine Definition laut DIN oder dergleichen gibt es nicht. Üblicherweise wird darunter Strom verstanden, der aus Wasser- oder Windkraft, Biomasse, solarer Strahlung oder aus Erdwärme gewonnen wird. Der für die Energieträger physikalisch falsche, aber gewohnheitsmäßig benutzte Begriff „Erneuerbare Energien“ grenzt sie von dem Strom ab, der aus fossiler (Kohle, Erdgas, Erdöl) oder nuklearer Energie (Uran) gewonnen wird. Im physikalischen Sinn wäre es nur korrekt, von „Alternativen Energien“ zu sprechen. Andere gängige Falschbezeichnungen sind Grünstrom, Naturstrom, sauberer Strom.
Von 1048 Stromlieferanten in Deutschland bieten 850 mindestens einen “Ökotarif” an [1]. Der schwammig-falsche Begriff “Ökostrom” setzt sich in den Tarifdetails fort. Vom „reinen“ Ökostrom, erzeugt aus nur einem Energieträger über Kombinationen aus mehreren alternativen Energien, Mischformen aus einer oder mehreren alternativen Energien mit fossiler oder nuklearer Energie – es gilt „Nichts ist unmöglich“, um den Werbespruch eines japanischen Autoherstellers zu verwenden, und hat einen wahren Tarifdschungel hervorgebracht.
Von Umwelt- und Verbraucherverbänden oder kommerziellen Anbietern vergebene sogenannte Gütesiegel – neudeutsch Label genannt – versuchen Standards zu setzen. Manche Stromanbieter setzen sich eigene, über die Labels hinausgehende Maßstäbe und lassen sie von so genannt neutraler dritter Seite (z.B. TÜV) prüfen. Das Ergebnis wird auf einem zeugnisähnlichen Zertifikat dokumentiert. Gemeinsames Merkmal der Gütesiegel und Zertifikate ist, dass sie primär nur auf Basis von Herkunftsnachweisen arbeiten. Der umweltbewusste Stromkunde darf und soll daher mit dem Zertifikat in der Tasche sagen: „Ich verwende Ökostrom“. Tatsächlich bezieht er an seiner Steckdose weiterhin Strom aus dem ganzen deutschen Strom-Mix.
So weit, so gut? NEIN, lautet die Antwort. Die deutsche und auch die europäische Wirklichkeit sind viel schlimmer und komplizierter. Kaum ein deutscher Stromkunde wird mit dem Begriff RECS etwas anfangen können. Das sollte er aber. RECS steht für Renewable Energy Certificate System und ist ein europäisches Handelssystem für Stromzertifikate. Ein RECS-Zertifikat entspricht einer Megawattstunde (MWh) Strom, erzeugt aus alternativen Energien. Zur Veranschaulichung: Der jährliche Stromverbrauch des deutschen Durchschnittshaushaltes beträgt 3,5 MWh (= 3500 kWh).
Wie funktioniert RECS? Ein im Internet gefundenes Beispielerklärt das sehr anschaulich am Beispiel der Kölner RheinEnergie [2]:
„ … Nun ist eine andere Strategie angesagt, jetzt gilt es, den Verkauf von sog. “Ökostrom” zu favorisieren. Denn die Verbraucher sind nun für dieses Thema sensibilisiert. Doch was tun, wenn man (fast) keinen Ökostrom produziert? Nun, die Lösung ist relativ einfach, der Verbraucher darf nur nicht allzu deutlich merken, dass er eigentlich geleimt wird. Glücklicherweise gibt es ja Norwegen. Ein Land, das schon seit Jahrzehnten Energie mit Hilfe von Wasserkraftwerken produziert. Und es gibt die gute alte RECS-Regelung. Die kennen Sie, verehrter Leser, verehrte Leserin noch nicht? Das sollten Sie aber unbedingt tun. Ein Freund erklärte mir das vor kurzem mit folgendem Beispiel:
‘Die Ökoeier aus Honolulu’
In Honolulu laufen die Hühner schon immer frei herum. Sie ernähren sich aus dem, was in der Landschaft wächst, legen ihre Eier und die Bevölkerung isst dieselben. Ein glücklicher Zustand. Nebeneffekt: Bioeier zum Nulltarif. Dann macht ein niedersächsischer Manager einer Eierfabrik mit Legehennen dort Urlaub. Der hat ein Problem. Seine Eier will niemand mehr kaufen, weil es keine Bioeier sind. Er sieht die Situation auf Honolulu und kommt auf die glänzende Idee, von dort den Eierbestand nach Deutschland zu importieren. Aber da machen die Honoluaner nicht mit, denn sie lieben ihre Eier und wollen sie selbst essen. Und dann noch die ganzen Transportkosten! Aber, auch Honoluaner sind geschäftstüchtig. Einer kommt auf die Idee, ein Gütesiegel zu kreieren, auf dem bestätigt wird, dass seine Eier „Bioeier“ sind und dieses Siegel unabhängig vom tatsächlichen Verkauf von real existierenden Eiern zu verkaufen. Und schon sind alle zufrieden: Die Honoluaner haben weiterhin ihre gewohnten Eier, der Siegelverkäufer das Geld und der deutsche Manager klebt das Siegel auf seine Legebatterieneier und schafft so die ersehnten Bioeier, ohne dass sich an der Produktion in Deutschland irgendetwas ändert. Alles klar?
Zugegeben, dieses Eier-Beispiel ist erfunden, aber genauso funktioniert es auf dem Strommarkt. Hier nennt sich das Siegel dann RECS (Renewable Energy Certificate System). Es wurde im Jahre 2002 eingeführt. Wikipedia schreibt dazu: Das RECS System zertifiziert keine Ökostrom-Produkte und ist kein Ökostrom-Label. Das RECS System selbst stellt, außer dass nur für erneuerbare Energien Zertifikate ausgestellt werden können, als Nachweissystem für die Produktion von erneuerbaren Energien im allgemeinen keine weiteren Anforderungen an die Erzeugungsanlagen; weder an das Anlagenalter, noch an ökologische Anforderungen.
Das heißt im Klartext: RheinEnergie „klebt“ dieses Siegel auf seinen Strom, ohne dafür auch nur 1 kWh Ökostrom zu kaufen geschweige denn zu produzieren.“ [Zitatende]
Bis Ende 2012 war die Zertifizierung von “Ökostrom” freiwillig. Es gab unterschiedliche Zertifikatsysteme wie z.B. RECS, das vom Öko-Institut in Freiburg kontrolliert wurde. Mehrfacher Verkauf von “Ökostrom” durch Stromanbieter war nicht ausgeschlossen. Dadurch konnten Stromverbraucher getäuscht werden. Damit ist seit Anfang 2013 Schluss. Seitdem gilt für den Handel mit “Ökostrom” verpflichtend das European Energy Certificate System (EECS). Das zugrunde liegende Herkunftsnachweisregister (HKNR) basiert auf dem RECS-System. Das HKNR soll der einzige Maßstab für den Verkauf von “grünem” Strom sein und wird zentral über das Umweltbundesamt verwaltet [3].
“Ökostrom” wird im allgemeinen Sprachgebrauch ständig mit Strom gemäß dem Erneuerbaren Energien Gesetz (EEG) gleichgesetzt. Das ist falsch.
Strom, der eine Vergütung gemäß EEG erhält, ist KEIN Ökostrom.
Stromversorger, die ihren Kunden „echten“ Ökostrom anbieten wollen, müssen ihn daher entweder außerhalb des EEG-Regelwerks beschaffen oder, und das ist der gegenwärtige Trend, es wird ‚greenwashing‘ per Zertifikat bzw. Herkunftsnachweis aus dem Ausland vorrangig mit Strom aus Wasserkraft betrieben. Da fügt es sich ins Bild, dass seit Juni 2013 Herkunftsnachweise für “Grünstrom” an der Leipziger Energiebörse EEX gehandelt werden. Bis Ende 2013 waren es bescheidene 465 Gigawattstunden mit Lieferzeitpunkten zwischen März 2014 und Dezember 2016 [4]. Zur Einordnung: Das sind 0,8 Promille unseres Jahresstromverbrauchs.
Fazit: Das HKNR mag Doppelvermarktung zwar ausschließen, aber die Physik überlisten kann auch es nicht. So bleibt nordischer Wasserkraftstrom weiterhin in Nordeuropa und gelangt nicht bis zur Steckdose von Lieschen Müller in Deutschland, auch wenn die Werbung das noch so vollmundig behauptet. Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage muss daher heißen: Ja – Ökostrom ist ein großer Bluff für deutsche Stromkunden.