Gabriel beerdigt die Energiewende

                                                             

Es war schon immer so, dass staatliche Reparaturmaßnahmen für als unbrauchbar erkannte Gesetze und Regeln das Ganze nur noch schlimmer machten. Eine recht lange Kette von derartigen Taten begleitet seit Jahren die Energiewende. Der Grund dafür ist stets der gleiche: Wenn sich eine gesetzliche Maßnahme als Unsinn erweist, muss sie irgendwie zum Funktionieren gebracht werden, ohne sie in ihrem (falschen) Kern anzutasten, was von bösen Menschen als Scheitern bezeichnet werden könnte. Sie schlicht wegen ihrer Unsinnigkeit abzuschaffen, ist in diesem System undenkbar. Weil diese Aufgabe aber selbst unsinnig weil grundsätzlich unlösbar ist, kommt als Reparaturergebnis stets nur ein Krampf heraus.

Das EEG zum Beispiel wimmelt nach vielen derartigen Verbesserungen von widersprüchlichen Bestandteilen; deren begrenzter Wirkungsradius richtete aber üblicherweise keine riesigen Schäden am gesamten Programm an.

Bis Sigmar Gabriel kam.

Das Trassen-Dilemma

Die Regierung hat wiederholt erklärt, dass die Versorgung der südlichen Bundesländer mit in Norddeutschland und Offshore erzeugtem Windstrom über ein neu zu errichtendes System von Nord-Süd-Höchstspannungsleitungen das Kernstück bzw. den wichtigsten Stützpfeiler der Energiewende darstellt. Dann sei der durch die Stilllegung aller Kernkraftwerke eingetretene Verlust an Stromerzeugung mehr als ausgeglichen – und Deutschland ein leuchtendes Beispiel für den Klimaschutz. (Dass Kernkraft auch kein CO2 erzeugt, vergessen wir mal eben.)

Aber dieses große Werk geriet in Schwierigkeiten.

Die durch jahrelange Strahlenangst-Propaganda erfolgreich sensibilisierten Bürger wussten schon lange, dass Hochspannungsleitungen elektromagnetische Strahlung aussenden. Nach dem Netzausbauplan sollten nun neue Freileitungen durch ihre Gemeinden gebaut werden – die Riesenmasten in Sichtweite. Es kam wie es kommen musste: Bundesweit regte sich Widerstand entlang der geplanten Trassen, zahllose Bürgerinitiativen mit dem Motto „Keine 380 kV bei uns“ bildeten sich. Zur Strahlenfurcht kam noch die Wut über die Täuschungsversuche mit dem angeblich durch die neuen Leitungen fließenden klimafreundlichen Windstrom aus Norddeutschland, der sich durch einfache Betrachtung des Plans für die Nord-Süd-Trassen als Strom aus den Braunkohlerevieren herausstellte. Der harte und massive Widerstand veranlasste die bayerische Staatsregierung zu einer spektakulären Kehrtwendung bezüglich der Leitungsführung und sogar zur Infragestellung der Notwendigkeit dieser Pläne.

In der bayerischen Landesregierung sah man vermutlich zutreffend den Hauptgrund für den Widerstand in den oberirdisch geplanten neuen Freileitungen. Viele Bürgerinitiativen forderten schließlich eine unterirdische Trassenführung in ihrer Gemeinde: Durch Erdkabel. Die lokale Politik und anschließend auch die Landespolitik – in technischen Dingen ahnungslos wie meistens – unterstützte diese Forderungen in der Hoffnung auf eine Beruhigung der Bürger. Das Gejammer der Netzbetreiber half nichts.

Die Politik  beschloss  den Vorrang für Erdkabel.

Das wurde Ende 2015 Gesetz. Was die Politik – speziell den Energieminister – anscheinend  nicht so sehr interessiert hat, ist die fatale Auswirkung dieser Gesetz gewordenen Neuplanung auf die gesamte Energiewende. Man hatte den Bürgern ihre Erdkabel gegeben und gut war’s.

Diese Entscheidung hat  einige Auswirkungen, was man schon 2015 wusste:

  • Sie verteuert den Leitungsbau – um das vier- bis siebenfache.
  • Sie vermeidet riesige neue Freileitungen; durchaus ein Vorteil.
  • Sie verzögert den Leitungsbau beträchtlich, weil es die dafür benötigten Höchstspannungskabel technisch noch am Anfang stehen. Die längsten derartigen Kabelstrecken auf der Welt sind 20 km lang.
  • Die gesamte Planung muss neu aufgerollt werden. Die Eingriffe in Grundstücke sind größer; Genehmigungsverfahren könnten länger dauern.
  • Insgesamt bedeutet der Vorrang für Erdkabel eine starke Behinderung und Verzögerungdes Netzausbaus – was im Sinne der Bürgerinitiativen ist.
  • Dass sämtliche Kostenerhöhungen auf die Stromkunden abgewälzt werden, in diesemFall über die Netzentgelte, ist ein Grundprinzip der Energiewende, das auch hier beibehalten wird.

Mehrjährige Verzögerungen des Netzausbaus

Erst Anfang Juni 2016 meldete sich die Bundesnetzagentur (BNetzA) mit einem Bericht zu den erwarteten Konsequenzen dieser Entscheidung. Wichtigster Punkt darin sind die Aussagen über die nun zu erwartenden Verzögerungen. Die Gründe: Die bereits fertigen Planungen für Überlandleitungen müssen neu aufgerollt werden. Von den Lieferengpässen bei den noch unzureichend erprobten Kabeln ist nicht die Rede.

Die im Bericht der BNetzA aufgeführten konkreten Folgen sind:

– Die sog. SuedLink-Trasse von Norddeutschland nach Bayern und weiter nach Baden-  Württemberg wird erst 2025 fertig – 3 Jahre später als geplant.

– Genau so sieht es beim Korridor A aus, einer Leitung von Emden nach Osterath in NRW.

– Die Leitung von Osterath in das baden-württembergische Philippsburg verzögert sich bis  2021, also um 2 Jahre.

– Die Trasse SuedOstLink von Sachsen-Anhalt nach Niederbayern wird erst 2025 fertig.

Ursprünglich sollten die Nord-Süd-Leitungen fertig sein, wenn die letzten deutschen Kernkraftwerke 2022 vom Netz gehen.

Das bedeutet für die beiden Süd-Bundesländer:

  • Die beiden nach Bayern führenden Leitungen werden erst 3 Jahre nach dem Abschalten der letzten Kernkraftwerke fertig. Bayern hat damit keine Chance, nach dem Ende der Kernkraft wenigstens Kohlestrom aus den beiden mitteldeutschen Braunkohle-Revieren über seine beiden Nord-Süd-Trassen zu erhalten.
  • Baden-Württemberg wird wegen seiner Anbindung an die SuedLink-Trasse ebenfalls bis 2025 auf deren Strom warten. Und weil Korridor A von Emden ebenfalls erst 2025 fertiggestellt ist, nutzt auch die Fertigstellung der weiterführenden Leitung nach Philippsburg bis 2021 nichts. Es sei denn, über diese Leitung fließt Strom aus dem rheinischen Braunkohlerevier, was Baden-Württemberg nur zu wünschen wäre.

Damit werden beide südlichen Bundesländer die Versorgung durch ihre Kernkraftwerke verlieren und keinen Ersatz dafür über die unfertigen neuen Trassen bekommen. Es ist schwer vorstellbar, dass sie das schweigend hinnehmen, weil es das Ende ihrer Industrie wäre. Stromimporte aus Österreich sind in dem nötigen Umfang kaum möglich. Und Stromimporte im Winter aus irgendeinem Nachbarland sind extrem unwahrscheinlich; man braucht dort seinen Strom selbst.

Damit hätte Gabriels Erdkabel-Gesetz das Ende der Energiewende zur Folge.

Die bayerischen Bürgerinitiativen hatten längst erkannt, dass die neuen Trassen in Wahrheit Strom aus den rheinischen und mitteldeutschen Braunkohlerevieren nach Süden transportieren sollten und waren gegen diese Täuschung auf die Barrikaden gegangen. Es wird auch dabei bleiben, wenn die Trassen endlich fertiggestellt sein werden, denn den „Zappel-Windstrom“ aus Norddeutschland kann niemand zu irgendetwas gebrauchen..

Wenn der Kohlestrom dann tatsächlich kommt und die Leitungen nur gelegentlich störende Windstrom-Spitzen übertragen, bricht das gesamte Begründungs-Gerüst vom sauberen, das Klima schützenden Windstrom, der die süddeutschen Kernkraftwerke ersetzt, endgültig in sich zusammen.

Es war schon immer so, dass staatliche Reparaturmaßnahmen für als unbrauchbar erkannte Gesetze und Regeln das Ganze nur noch schlimmer machten. Aber jetzt hat die Regierung in dieser Hinsicht ihr Meisterstück geliefert: Diese Änderung, die eigentlich nur die Bürgerinitiativen befrieden sollte, erledigt die ganze Energiewende.

Sind jetzt wenigstens die kritischen Bürger beruhigt?

Was die Politik möglicherweise nicht weiß, ist die Tatsache, dass man eine Scheinlösung zum Gesetz gemacht hat. Motto: Was ich nicht sehe (Masten und Seile), kann mir nichts schaden.

Die Forderung nach einer Verlegung der neuen Höchstspannungsleitungen unter die Erde kann  nicht mit einer angeblichen Verringerung oder gar Vermeidung der magnetischen bzw. der elektromagnetischen Strahlenbelastung begründet werden. Aber so lange die Bürger das glauben – so vermutlich die Haltung der Politiker – sollte man ihnen den Gefallen tun. Sie bezahlen die Mehrkosten schließlich auch.

Ihr am meisten Besorgnis erregendes Problem haben die Trassengegner leider behalten, obwohl sie vermutlich meinen, es nun los zu sein.  Es geht um die gesundheitlichen Auswirkungen von niederfrequenter elektromagnetischer Strahlung, die von Hochspannungsleitungen ausgeht – und um die erhoffte Entlastung, die Erdkabel an Stelle von Freileitungen bringen würden. Es geht also um zwei selbst für Fachleute schwer  durchschaubare Phänomene, die hier zusammen wirken: Die physikalische Strahlungseinwirkung auf die Bewohner eines Hauses in der Nähe einer Freileitung bzw. eines Erdkabels und deren eventuelle gesundheitliche Auswirkungen.

Es ist davon auszugehen, dass Erdkabel die gleiche Strahlungswirkung wie Freileitungskabel haben – wenn die Art des Stroms, die Stromstärke und der Abstand zum Empfänger der Strahlung gleich sind.  Alle 380-kV-Trassen, die sich in der Netzplanung befinden, transportieren 50-Hertz-Drehstrom, also Wechselstrom. Sie sind daher für die Anrainer problematischer als die Gleichstromleitungen.

Sobald sich diese Erkenntnis durchsetzt, kann man davon ausgehen, dass sich der Widerstand der Bürgerinitiativen künftig auf alle neuen Wechselstromleitungen konzentriert – ob Freileitungen oder Kabel – und damit auf den ungleich größeren Teil des Energiewende-Netzausbaus als der für die Nord-Süd-HGÜ-Leitungen vorgesehene, der nur im Moment mehr Schlagzeilen macht. Es handelt sich um die Verteilnetze, die zusammen eine Länge von 98 % der rund 1,8 Millionen km Stromleitungen in Deutschland haben und in denen wegen des diese Netze belastenden enormen Ausbaus der Solar- und Windenergie ein entsprechend großer Ausbau ansteht – mit sehr vielen neuen Wechselstromleitungen.

Wenn dann dieser Ausbau der Verteilnetze beginnt, wird die Zahl der Bürger, vor deren Haustür das stattfindet, entsprechend anwachsen. Sie werden dann von den Bürgerinitiativen, die heute gegen die Höchstspannungstrassen kämpfen, einiges lernen können.

Dazu gehört dann auch die schlechte Nachricht: Erdkabel bringen keine Verbesserung bei der Strahlungsbelastung. Außerdem ist es ein Irrtum, dass Erdverkabelung einen geringeren Umwelteingriff darstellt als  Freileitungen.

Dazu RA Dr. Herbert Posser: „Eine kurze Bestätigung aus meiner planungsrechtlichen Erfahrung: Es ist in der Tat ein weit verbreiteter Irrtum, dass Erdverkabelung einen geringeren Umwelteingriff darstellt als Freileitungen. Es gibt…erhebliche Eingriffe in die Natur, so dass es im Einzelfall durchaus sein kann, dass die Kabellösung unter Umweltverträglichkeits-Gesichtspunkten die schlechtere Variante ist.“

Würden die in der Schweiz geltenden Vorsorgegrenzwerte auch in Deutschland gelten, dann wäre es sowohl mit dem Bau von Freileitungen als auch von Erdkabeln, die näher als 500 Meter von einer Wohnbebauung entfernt verlaufen sollen, vorbei.

Es hat den Anschein, dass jetzt niemand mehr – außer den Unternehmen, die Trassen bauen – irgendeinen Vorteil aus diesem Schlamassel für sich reklamieren kann. Die Kernkraftwerke werden stillgelegt, die Mitarbeiter entlassen. Die Industrie braucht eine zuverlässige Stromversorgung, bekommt sie aber nicht. Den privaten Stromkunden geht es nicht besser. Die umfangreichen Baumaßnahmen längs der Trassen werden viel Ärger erzeugen; es wird Prozesse geben. Die Strahlenbelastung der Anrainer ändert sich kaum; Sicherheit gibt es bei diesem Thema nicht. Falls die neuen Trassen doch Kohlestrom heranschaffen, erhält der Vorwurf des Betrugs mit der angeblich klimafreundlichen  Öko-Stromversorgung neue Nahrung. Vielleicht beschließt die verzweifelte Regierung eine Verlängerung der Laufzeit für die Kernkraftwerke, um den großen Blackout zu vermeiden. Dann ist die Glaubwürdigkeit der gesamten Energiewendepolitik erledigt.

Aber die Energiewende ist dann angesichts der unauflösbaren Widersprüche, der Serie von Pannen, der angerichteten Schäden, der Ratlosigkeit über den Umgang mit dem selbstverschuldeten Chaos ohnehin am Ende.

Wir schulden Sigmar Gabriel Dank. Er hat es nur gut gemeint. Und aus dem Trümmerhaufen der Energiepolitik erwächst irgendetwas Neues. Zumindest neue Akteure.

 

Sankt Augustin, 17.Juni 2016