Bewegt sich etwas in der Kernenergiediskussion? „Neuerdings gibt es in Deutschland Leute, die das Redetabu über die Kernenergie brechen“, schreibt Veronika Wendland *), „Leute, die sich im ökologisch-progressiven Spektrum verorten und sich dafür aussprechen, den Atomausstieg zu überdenken. Sie tun das, weil sie lieb gewordene vorherige Überzeugungen in Lernprozessen geändert haben, und weil sie angesichts der gescheiterten Energiewende und der Herausforderungen von Luftverschmutzung, Bevölkerungswachstum und Klimawandel auch über die nukleare Lösung wieder diskutieren wollen. Sie argumentieren, dass die Kernenergie eine technisch ausgereifte, landschaftlich minimal-invasive und luftschadstoffarme Form der Elektrizitätsversorgung sei, und dass fortgeschrittene Formen von Kerntechnik wesentlich mehr könnten als Strom zu produzieren: Fernwärme für Wohngebiete bereitstellen und Prozesswärme für die Treibstoffsynthese, medizinische Radionuklide generieren, und Atommüll verwerten.“ Am 21. Oktober 2018 stellt sich diese Initiative auf dem Münchener Marienplatz beim „Nuclear Pride Fest“ vor.
Die friedliche Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung war in Deutschland zu keiner Zeit eine in der Bevölkerung durchgängig akzeptierte Energieform. Bei diesem Thema kochten die Emotionen hoch und spaltete die Gesellschaft. Obwohl der ablehnende Teil der Bevölkerung in der Minderheit war, bildeten sich etliche Bürgerinitiativen, die in Teilen nicht vor Gewalt zurückschreckten. Beispielhaft sei an die heftigen Demonstrationen gegen die Kernkraftwerke Wyhl und Brokdorf erinnert. Das Wyhl-Vorhaben wurde daraufhin fallen gelassen. Das Kernkraftwerk Brokdorf ist noch heute am Netz, das erstmals im Oktober 1986 kritisch wurde. Die Rechtmäßigkeit der friedlichen Kernenergienutzung überzeugte nicht, jedenfalls nicht die, die aus Prinzip und Überzeugung gegen Kernenergie waren. Die atomare Zerstörungskraft war und ist offenbar noch in vielen Köpfen und dominiert den Nutzen der nuklearen Stromerzeugung. Das speziell in Deutschland verbreitete Phänomen der Angst gegen alles, was mit Strahlung zu tun hat (Ausnahme Medizin), wirkt trotz intensiver Aufklärung bis in die heutige Zeit und lässt sich rational so recht nicht begründen.
Überzeugend begründen lässt sich ebenso wenig der im März 2011**) vom Bundestag beschlossene Ausstieg aus der Kernenergie als Folge, so die Begründung, der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima. Die Katastrophe, so schlimm sie auch war, hatte nachweislich keine nuklearen Todesopfer zur Folge. Zudem setzt Japan weiterhin auf die Kernenergie. 2022 soll das letzte deutsche Kernkraftwerk vom Netz genommen werden. Trotz einer bis dato makellosen Bilanz des nuklearen Betriebes aller deutschen Kernkraftwerke und trotz einer außerordentlich hohen, bewährten Sicherheitstechnik. Und dann? Was stattdessen? Bis zum Zeitpunkt des Ausstiegsbeschlusses galt doch die friedliche Nutzung der Kernenergie im Parlament mehrheitlich als unverzichtbar!
Bundesregierungen und Parlamentarier haben sich ihre Entscheidung für die Kernenergie in den 60er und 70er Jahre nicht leicht gemacht. Diskussionen und Begründungen fanden auf einem hohen Niveau statt. Die ungewöhnlich ausführliche Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Bundestagsfraktionen der SPD/FDP vom 08.06.1977, Drucksache 8/570 zur Energiepolitik mag dies verdeutlichen. Sie hat im Grundsatz bis heute Bestand. (Bemerkenswert: Die Fragesteller der Großen Anfrage stellen die Bundesregierung in jener Zeit!) Wegen der in der Sache unveränderten Gültigkeit sei die auf die Kernenergie bezogene Antwort hier in Auszügen wiedergegeben.
In der Vorbemerkung der Antwort heißt es:
„Eine sichere Energieversorgung ist eine der Grundvoraussetzungen für die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft und die Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse der Bürger. Ohne ausreichende Energie können notwendiges Wachstum und damit auch die Arbeitsplätze nicht gesichert werden. Die zuverlässige, rechtzeitige und kostengünstige Bereitstellung von Energie ist für die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft wesentlich.“ …
„Die energiepolitische Diskussion der letzten Zeit hat sich auf die Kernenergie und die Frage nach der Notwendigkeit von gesamtwirtschaftlichem Wachstum und damit steigendem Energieverbrauch konzentriert. Die Bundesregierung hat die Gesamtausrichtung ihrer Energiepolitik im Energieprogramm 1973 und dann in seiner Ersten Fortschreibung 1974 dargelegt. Diese Politik wurde im Bundestag ausführlich diskutiert und fand breite Zustimmung.“ …. „Nach übereinstimmender Ansicht aller großen Industriestaaten und der sich mit Energie befassenden internationalen Organisationen ist eine ausreichende Energieversorgung der Welt ohne den Einsatz der Kernenergie in den nächsten Jahrzehnten nicht erreichbar. Ein Verzicht der Industriestaaten auf Kernenergie und damit sprunghaft steigende Nachfrage nach Öl von ihrer Seite würde die bereits bestehenden Probleme der Dritten Welt außerordentlich verschärfen. Am stärksten müsste ein Verzicht der Industrieländer auf die Kernkraft die Entwicklungsländer treffen. Die ärmeren unter ihnen sind infolge ihrer Struktur und ihres technischen Entwicklungsstandes auf lange Sicht besonders auf Öl angewiesen. Die fortgeschritteneren Länder der Dritten Welt können die Kerntechnik kaum ohne die technologische Hilfe der Industrieländer nutzen.“
„Weit mehr als für die Vereinigten Staaten mit breiteren eigenen Alternativen gilt die Notwendigkeit, die Kernenergie unter Vorrang der Sicherheit der Bevölkerung zu nutzen, für die an Energierohstoffen arme Bundesrepublik Deutschland. Wir können den Anteil des Öls an unserer Energieversorgung nicht fühlbar zurückdrängen und zugleich die Versorgung mit Strom sicherstellen, ohne dass die Kernenergie einen maßvoll steigenden Beitrag leistet. Die Bundesregierung hat in den „Grundlinien und Eckwerten” dargelegt, dass sie einen Beitrag der Kernenergie in einer Größenordnung von 30.000 MW für 1985 für energiepolitisch wünschenswert hält.“
„Die für die nächsten Jahrzehnte unübersehbaren und unvermeidbaren weltweiten energiepolitischen Risiken zwingen auch die Bundesrepublik Deutschland, alle zur Verfügung stehenden Optionen und Alternativen zum Öl zu entwickeln (Anm.: Es war die Zeit der Öl-Krise). Hierzu gehört auch der maßvolle und stetige Ausbau der Kernenergie in der Form des bei uns und in vielen Ländern bewährten Leichtwasserreaktors. Für die Bundesregierung hat die Sicherheit der Bevölkerung bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie Vorrang. Die deutschen Sicherheitsstandards liegen im internationalen Vergleich an der Spitze. Angesichts dieses Vorrangs der Sicherheit der Bevölkerung verbindet die Bundesregierung ihre atomrechtliche Genehmigungspraxis mit der hinreichenden Lösung der Entsorgungsprobleme. Den Grundsätzen, nach denen die Bundesregierung verfahren wird, haben die Ministerpräsidenten der Länder mit großer Mehrheit zugestimmt.“
An dieser Stelle ist eine sehr kritische Anmerkung angebracht: Bei der hinreichenden Lösung der Entsorgungsproblemehat die seinerzeitige Bundesregierung und haben alle nachfolgenden kläglich versagt. Trotz intensiver Forschung und Bereitstellung von Entsorgungslösungen durch Wissenschaft und Industrie haben sich die Parteien in der Entsorgungsfrage gegenseitig ‚Knüppel zwischen die Beine geworfen’. Die fehlende Entsorgung wurde vom politischen Gegner als Killerargument gegen die weitere Kernenergienutzung ins Feld geführt. Auch was heute als Lösung verfolgt wird, ist ein Trauerspiel und wird die Politiker noch Jahrzehnte ohne erkennbare Aussicht auf Erfolg und Fortschritt in der Lösung der Entsorgungsfrage beschäftigen. Selbst die Errichtung des Endlagers Konrad für (nur) mittel- und schwachradioaktive Abfälle ist bis dato, 35 Jahre nach Planungsbeginn, noch nicht abgeschlossen und wird es auch in den nächsten zehn Jahren nicht sein. Näheres dazu erfahren Leser und Leserinnen in früheren Artikeln auf dieser Webseite.
In der Antwort der Bundesregierung wird weiter betont, dass „in unserem freiheitlichen System wichtige politische Entscheidungen von der Zustimmung der Bürger getragen werden müssen. Die Bundesregierung begrüßt es deshalb, dass die Probleme unserer Energieversorgung, besonders die mit der Nutzung der Kernenergie zusammenhängenden Fragen, in der Öffentlichkeit intensiv erörtert werden.“ Insofern ist bemerkenswert, dass sich die damalige Bundesregierung (8. Legislaturperiode) wie auch nachfolgende Regierungen trotz erheblicher Proteste in Teilen der Bevölkerung nicht vom Ausbau der Kernkraftwerke abbringen ließen. Es bedurfte allerdings in den Folgejahren einiger Konsensgespräche zwischen Bund, Länder und Oppositionsparteien, um den Ausbau der Kernkraftwerke und deren ungestörten Betrieb politisch zu bewerkstelligen. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in 1986 hatte Zweifel an ausreichender Sicherheit der Kernkraftwerkstechnik bei Politikern und Öffentlichkeit aufkommen lassen.
Mit Gesetz und Verordnungen wurden Rechtsgrundlagen geschaffen, die ein Höchstmaß an nuklearer Sicherheit forderten und auch schafften. So heißt es in der Antwort der Bundesregierung zu Strahleneinwirkungen im Normalbetrieb eines Kernkraftwerkes:
„Die derzeit bestehenden Dosisgrenzwerte werden auf eine höchstzulässige Strahlenexposition am ungünstigsten Ort in der Umgebung einer kerntechnischen Anlage bezogen und auf 30 Millirem Ganzkörperdosis pro Jahr begrenzt, jeweils für Ableitungen über Luft und über Wasser. Die mittlere Strahlenexposition der Gesamtbevölkerung durch kerntechnische Anlagen liegt hingegen zur Zeitum mehrere Größenordnungen unter dieser maximal zulässigen Individualdosis.“ An die Stelle von Millirem trat zwar inzwischen Millisievert (mSv), am Dosisgrenzwert selbst, der heute 0,3 mSv lautet, hat sich nichts geändert (30 mrem entspricht 0,3 mSv). Zum Vergleich: Die natürliche Strahlenexposition des Menschen beträgt etwa 2 mSv im Jahr.
„Darüber hinaus „müssen Kernkraftwerke technisch so ausgelegt werden, dass die Strahlenbelastung nach einem Störfall für die in der unmittelbaren Umgebung dieser Anlage am höchsten exponierten Personen höchstens 5 rem (=50 mSv) betragen kann, was dem zulässigen Grenzwert von beruflich strahlenexponierten Personen entsprechen würde.“ Dieser Grenzwert wurde inzwischen auf 20 mSv abgesenkt.“
Auf die Frage, ob die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen ausreichen, um zuverlässige Aussagen über die längerfristige Wirkung der durch kerntechnische Anlagen verursachten zusätzlichen radioaktiven Expositionen machen zu können, antwortete die Bundesregierung:
„Das somatische Strahlenrisiko für Spätschäden aufgrund der maximal für die Bevölkerung zugelassenen Individualdosis durch den Betrieb kerntechnischer Anlagen beträgt weniger als ein Zehntausendstel des derzeitigen mittleren Gefährdungsrisikos in der Bundesrepublik Deutschland. Aufgrund des für die Gesamtbevölkerung wesentlich niedrigeren Mittelwertes der Strahlenexposition ergibt sich ein zusätzliches Strahlenrisiko von weniger als ein Dreihunderttausendstel des derzeitigen Risikos.
Diese Aussagen beruhen auf sehr pessimistischen Annahmen und beinhalten damit eine große Sicherheitsreserve bei der Beurteilung des Strahlenrisikos; keinesfalls sind sie mit konkret zu erwartenden Schadensergebnissen gleichzusetzen. Exakte Aussagen sind auf der Basis der derzeit vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen nicht möglich. Statistische Überlegungen zeigen jedoch, dass aufgrund der geringfügigen Erhöhung der Strahlenbelastung durch den Betrieb kerntechnischer Anlagen auch künftig keine etwa kausal solchen Einflüssen zuordnungsfähigen Wirkungen festgestellt werden können.“
Die Energiefrage im Allgemeinen und die Nutzung der Kernenergie im Besonderen stellt sich aber längst nicht allein als ein wissenschaftlich-technologisches und ökonomisches Problem dar. Sie ist längst auch zu einem Thema der Ethik geworden. Dieses Thema rückte bereits vor 30 Jahren ins Zentrum der Diskussionen. Die Güter- und Übelabwägungen sind zu einem Kernstück der mit der Energieversorgung scheinbar unlösbar verbundenen gesellschaftlichen Akzeptanzproblematik geworden, obwohl, wie zuvor dargelegt, das Übel der Kernenergie in Anbetracht der hohen Sicherheitsvorkehrungen weit unterhalb der Risiken liegt, denen der Mensch im täglichen Leben ausgesetzt ist.
Die Abwägungsfrage ist im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Akzeptanzproblem „von fast erdrückender Komplexität“, wie Korff ***) es formulierte. Nicht ansatzweise will ich dem Versuch erliegen, näher auf diese vielschichtige Problematik einzugehen, sondern verweise vielmehr auf ihre umfassende Behandlung in seinem Buch.
Eine Kernaussage in seinem Buch, die Korff als „Handlungsmaxime“ definiert, sollte allen für Energiepolitik Verantwortlichen zu denken geben:
„Ein Tun, das einem sittlichen guten Ziel dienen soll, ist ethisch nur gerechtfertigt, wenn die als Nebenfolge eintretenden Übel geringer sind als Übel, die aus einem Handlungsverzicht erwachsen würden.Wo immer man also die Nutzung eines bestimmten Energieträgers für notwendig hält, obwohl gegen ihn gravierende Vorbehalte und Bedenken ins Feld geführt werden, muss der Nachweis erbracht werden, dass die schädlichen Folgen, die durch den Verzicht auf diesen Energieträger entstehen, größer sind als jene Schäden und Risiken, die mit seiner Nutzung verknüpft sind.“
Auch jetzt, wie damals bei der Entscheidung für die Kernenergie, bedarf es Politiker, die erkennen, dass auf regenerative Energien allein keine sichere, wirtschaftliche und umweltfreundliche Stromversorgung für eine Industrienation wie Deutschland aufgebaut werden kann, danach handeln und die sich nicht von Stimmungen und Ressentiments in der Bevölkerung abhängig machen.
*) Anna Veronika Wendland, Ausweitung der Kampfzone, Salonkolumnisten, 6.Oktober 2018
**) Der in 2001 per Atomgesetzänderung beschlossene Ausstieg wurde zwischenzeitlich von der CDU/CSU und FDP geführten Bundesregierung revidiert.
***) Wilhelm Korff, Die Energiefrage. Entdeckung ihrer ethischen Dimension, Paulinus-Verlag Trier, 1992