Es besteht die weit verbreitete Ansicht, irgendwo in Europa bläst immer hinreichend Wind für den Betrieb der Windkraftanlagen. Wenn nicht auf dem Festland, so dann aber bestimmt auf hoher See, auf der Nordsee. Eine Ansicht, die zu dem Schluss verleitet, es müsse nur genug Anlagen auf Land (Onshore) und auf See (Offshore) geben, um eine sichere, ausreichende Stromversorgung zu gewährleisten. Ein mächtiger Irrtum. Wir haben diesen Aspekt bereits wiederholt thematisiert, wegen neuerer Daten greifen wir ihn erneut auf.
Die Nordsee wird als Wiege und Herzstück der europäischen Offshore-Windenergie bezeichnet. Insgesamt sind Ende 2019 rd. 1.470 deutsche Offshore-Windenergieanlagen mit einer Gesamtkapazität von etwa 7500 Megawatt (MW) am Netz. Zusammen haben die Offshore-Windparks in Deutschland nach vorläufigen Daten der Übertragungsnetzbetreiber im Jahr 2019 rd. 24 Milliarden Kilowattstunden (Mrd. kWh) Strom eingespeist [1]. Diese Einspeisung entspricht (nur) 4,1% der Netto-Stromerzeugung in Deutschland.
Der Ausbau der Offshore Windenergie in Deutschland liegt aktuell wegen fehlender Ausschreibungen brach. Am 06.11.2020 beschloss der Deutsche Bundestag Gesetzesvorhaben, die sowohl die Offshore-Windenergie als auch den Ausbau der Windenergie an Land betreffen. Im Gesetz ist die Zielerhöhung für den Ausbau der Offshore Windenergie festgeschrieben: Bis 2030 sollen 20.000 MW, bis 2040 dann 40.000 MW Leistung errichtet werden.
Bis 2030 soll der Stromanteil der erneuerbaren Energien an der Bruttostromerzeugung 65% betragen. Einen großen Teil davon muss die Windenergie beisteuern. Wie sicher kann sie das?
Linnemann und Vallana [2] konnten belegen, dass europaweit die aufsummierte eingespeiste Leistung der über mehrere tausend Kilometer sowohl in Nord-Süd- als auch Ost-West-Richtung verteilten Windkraftanlagen hoch volatil ist. Ihr Fazit ist erschreckend:
„Die intuitive Erwartung einer deutlichen Glättung der Gesamtleistung in einem Maße, das einen Verzicht auf Backup-Kraftwerksleistung ermöglichen würde, tritt nicht ein. …Windenergie trägt damit praktisch nicht zur Versorgungssicherheit bei und erfordert planbare Backup-Systeme nach heutigem Stand der Technik von fast 100 % der Nennleistung des ‚europäischen Windparks’, solange dessen Nennleistung die kumulierte Jahreshöchstlast der betreffenden Länder zuzüglich Reserven noch nicht überschritten sind.“ Die Backup-Leistungen werden von Kernkraftwerken und Fossilkraftwerken geliefert, wobei in Deutschland der nukleare Beitrag 2022 und die Kohleverstromung spätestens 2038 enden soll.
Das Ergebnis der Linnemann/Vallana-Studie verdeutlichen die von Rolf Schuster/Vernunftkraft geschaffenen Grafiken am Beispiel der Windstrom-Erzeugung von Januar bis Oktober2020 (Abb.1) und – herausgehoben – in den Monaten Juni und Oktober 2020 (Abb.2).
Abb. 1: Offshore-Stromleistung Januar bis Oktober 2020
Abb. 2: Offshore-Stromleistung in den Monaten Juni und Oktober 2020
Diese Abbildungen mögen den fachfremden Betrachter vielleicht verwirrend erscheinen, daher folgende Erklärung: Über der (waagerechten) Zeitachse sind die zum jeweiligen Zeitpunkt zur Verfügung stehende Leistung in Megawatt aller Offshore-Windkraftanlagen der angegebenen Ländern aufgetragen. Der zackenartige Verlauf der Leistung resultiert aus der jeweiligen Windstärke, Flatterstrom genannt. Mal bläst der Wind, mal kommt er fast zum Erliegen, auch auf der Nordsee. Keine Spur einer auch nur annähernd gleichmäßigen zur Verfügung stehenden Leistung. Die Leistungsverläufe in den fünf betrachteten Ländern mit Offshore-Windparks sind geradezu synchron. Auf Land sehen die Verhältnisse auch europaweit nicht anders aus. Eine sichere Stromversorgung setzt eine nahezu konstante Kraftwerksleistung voraus, die Windkraftanlagen nicht liefern können. Der Ausgleich für fehlenden Windstrom ist – in Ermangelung geeigneter Stromspeicher – unabdingbar nur durch konventionelle Kraftwerke zu bewerkstelligen (Backup-Kraftwerke).
Abb. 3: Offshore-Stromleistung nur der Offshore-Parks von Deutschland und UK
Die etwas übersichtlichere Darstellung in Abb. 3 mit den Stromleistungen der Offshore-Parks von Deutschland und Großbritannien macht eine weitere Tatsache deutlich: Ausgesprochen selten und dann auch nur soeben erreichen die deutschen Offshore-Windkraftanlagen eine Leistung von 6.000 MW, bei einer installierten Leistung von 7.500 MW (s.o.). In der überwiegenden Zeit der Monate Januar bis Oktober 2020 schwankt die Leistung im Mittel (geschätzt) um 3.000 MW.
Das unmittelbare Fazit aus diesen Darstellungen ist, dass auch der von der Bundesregierung geplante Ausbau der Offshore- Windparks auf 20.000 MW bzw. 40.000 MW nichts an diesen extremen Leistungsschwankungen ändern wird.
Die Bundesregierung stützt sich bei ihrer Beurteilung der Versorgungssicherheit auch auf den „gesamten europäische Markt“, wodurch die Versorgung sicherer sei als eine rein nationale. „Dies bedingt, dass sich die Nachbarn in Europa jeweils aufeinander verlassen“, so ihre Aussage bei Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage. Diese Aussage wird durch die dargelegte Betrachtung eindeutig und unmissverständlich widerlegt.
Zum Abschluss zwei wichtige Feststellungen:
Die Bundesregierung geht im aktuellen Regierungsentwurf zur EEG-Novelle von einem nahezu unveränderten Bruttostromverbrauch bis 2030 aus, also von ungefähr 635 Terawattstunden (TWh), dem Mittelwert der letzten 5 Jahre. Der Bundesrat traf in den Ausschussempfehlungen eine mit 750 TWh „realistischere Annahme“ zum Bruttostromverbrauch im Jahr 2030.
Der BDEW-Vorsitzende Stefan Kapferer sieht in der Stromversorgungssituation Handlungsbedarf, aber „was aktuell an Zubau stattfindet, sowohl an erneuerbaren Energien als auch an Gaskraftwerken, kann nicht kompensieren, was an gesicherter Leistung mit dem schrittweisen Kohleausstieg und dem Kernenergieausstieg vom Netz geht.“
[1] https://www.offshore-windindustrie.de/windparks/deutschland
[2] Thomas Linnemann, Guido S. Vallana, Windenergie in Deutschland und Europa, Teil 2: Europäische Situation im Jahr 2017, VGB PowerTech 10/2018