Jeder kann sich selbst davon überzeugen: Es geht nicht mehr um die Frage, ob die Kernkraft global eine Zukunft hat, sondern welche Entwicklung zum Zuge kommt. Die Preiskapriolen auf dem Energiemarkt, die sichere Verfügbarkeit fossiler Brennstoffe, neuerdings von Gas und mehr noch der Verzicht hierauf, um die Decarbonisierung voranzutreiben und selbstverständlich die Unzuverlässigkeit der erneuerbaren Energien unabhängig von deren Kapazität, sind die wesentlichen Gründe für eine Neubewertung der Kernkraft.
In Europa sind es allen voran Frankreich mit einem Kernenergie-Stromanteil von rund 70 Prozent, Slowakei, Ungarn, Bulgarien, Belgien, Slowenien, Großbritannien, Finnland, Schweden, Tschechien, Spanien, Schweiz, Rumänien und die Niederlande, die kürzlich die Absicht erklärten, die Kernkraft ins Zentrum ihrer Energie- und Klimapolitik zu stellen. Polen kündigte den Bau von 6 Kernkraftwerken bis 2040 an. Die Abbildung zeigt die Kernenergie-Anteile an der Stromerzeugung in den Ländern.
Quelle: www.de.statista.com
Ausufernde Kosten und technische Probleme beim Neubauprojekt in Flamanville ließen den Ausbau der Kernkraft in Frankreich zwischenzeitlich fraglich erscheinen. Im November 2021 hatte der französische Präsident im Kampf gegen den Klimawandel und der Sorge um eine zuverlässige Energieversorgung die Kernkraftnutzung erneut bestärkt und den Bau einer neuen Generation bis 2030 und die Entwicklung modularer Minireaktoren angekündigt.
Selbst die französischen Grünen haben den früher vehement geforderten Atomausstieg inzwischen aufgegeben: “Niemand sagt, dass wir morgen die Atomkraftwerke runterfahren”, meint der grüne Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot zum Erstaunen seiner deutschen Kollegen.
Eine von FAZ [1] zitierte Analyse des französischen Netzbetreibers RTE [2] stärkt die Haltung der Kernenergie-Befürworter. „In puncto Wirtschaftlichkeit fällt das Urteil zu einem auf Wind und Sonne setzenden Strommix wenig schmeichelhaft aus. Schlage die französische Politik diesen Weg ein, beliefen sich die jährlichen Gesamtkosten für den „grünen“ Umbau auf jährlich rund 77 Milliarden Euro bis Mitte des Jahrhunderts.“ Das wäre deutlich mehr als ein Strommix mit halb Ökostrom, halb Atomstrom. In diesem Szenario würden die jährlichen Gesamtkosten „nur“ 59 Milliarden Euro betragen.
Aus wirtschaftlicher Sicht sei der Bau neuer Kernkraftwerken sinnvoll, kommt die Studie zum Schluss. Denn auch wenn die Kosten für erneuerbare Energien stark gesunken sind, erfordern Solar- und Windenergie höhere Investitionen in die Stromnetze und in die Flexibilität, was wiederum mehr Speicher und Reserve-Wärmekraftwerke, z. B. mit Wasserstoff oder Biomethan, erforderlich macht. Daher seien die Szenarien mit neuen Kernkraftwerken wettbewerbsfähiger.
Die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien meldet am 21.10.2021 einen plötzlichen Nachfrageschub nach Atomkraftwerken. Erstmals seit dem Fukushima-Unfall vor zehn Jahren hat die Behörde ihre globale Wachstumsprognose für Atomstrom deutlich nach oben korrigiert. Konkret meldet die IAEA, dass derzeit 52 neue Atomkraftwerke im Bau seien. Allein in China seien 13 Kernkraftwerke im Bau. Aber auch Indien setzt massiv auf Kernenergie und hat 7 Reaktoren im Bau, in Südkorea sind es 4 neue Kernkraftwerke. Laut IAEA wollen derzeit 28 Staaten neu in die Kernkraft einsteigen. Nicht nur dass Japan trotz des Fukushima-Unfalles seine alten Kernkraftwerke nach und nach wieder ans Netz bringt, es baut sogar zwei völlig neue.
Kernenergie sei Teil der Lösung zum Erreichen der globalen Klimaziele, so der IAEA-Generaldirektor Grossi.
GMX [3] berichtete, in den USA setzt die neue Biden-Regierung offensiv auf SMRs. Das Unternehmen NuScale entwickelt eine Technik, bei der mehrere kleine Reaktoren in einem kühlenden Wasserbecken installiert werden. Um einen Testbetrieb möglich zu machen, subventionierte das US-Energieministerium das Vorhaben mit 1,4 Milliarden Dollar. In Kalifornien arbeiten derzeit gut 50 Start-ups an der Entwicklung neuer Nukleartechnologien. Experten sprechen schon vom “Nuclear Valley”, das auf das “Silicon Valley” folgen werde. Dabei experimentieren die Ingenieure mit neuartigen Kühlmethoden wie dem Einsatz von flüssigem Natrium.
Stark engagiert bei der neuen Generation von Mini-KKWs ist auch die Nuklearfirma TerraPower, die von Multimilliardär Bill Gates gegründet wurde und Atommüll als Brennstoff nutzen will. “Wir meinen, ein Modell entwickelt zu haben, bei dem alle wichtigen Probleme gelöst sind”, schreibt der Unternehmer in seinem neuen Buch. Bis 2050 will TerraPower “Hunderte dieser Reaktoren auf der ganzen Welt sehen, die verschiedene Energiebedürfnisse lösen”, meint TerraPower-CEO Chris Levesque. Die 345-Megawatt-Anlagen werden mit flüssigem Natrium gekühlt und jeweils etwa eine Milliarde Dollar kosten. Das erste soll auf dem Gelände eines stillgelegten Kohlekraftwerks im US-Bundesstaat Wyoming entstehen. Starinvestor Warren Buffet ist mit von der Partie [3].
Absolut bezeichnend und treffend die Schlagzeilen im Handelsblatt vom 6.12 2021:
Stromlücke droht: Warum die Ziele aus dem Koalitionsvertrag kaum zu meistern sind
Die Ampelkoalition hat sich in der Energie- und Klimapolitik ehrgeizige Ziele gesetzt. Exklusive Berechnungen wecken Zweifel an der Umsetzbarkeit.
Deutschland nimmt die reale Kernenergie-Entwicklung in Europa und weltweit nicht zur Kenntnis. Doch was ist, wenn die EU in wenigen Tagen Kernkraftwerke als „grüne“ und somit förderungswürdige Technologie im Sinne ihrer neuen Klimapolitik (Taxonomie) einordnet und Deutschland mit seiner Gegenposition eine klare Niederlage einstecken musste?
Von der Leyen zeigt sich inzwischen schon öffentlich bei ersten Biegeübungen zur Quadratur des Kreises. Sie schrieb in einem Tweet. „Wir brauchen auch eine stabile Quelle, Kernkraft, und während des Übergangs Gas“ [4]. Die EU-Führungsmächte streben energiepolitisch auseinander. Die Schuld trägt Deutschland.
[1] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 31. Oktober 2021
[2] RTE-Studie „Futurs énergétiques 2050“ vom 25.10.2021 zeigt anhand von Szenarien verschiedene Wege auf, wie der erwartete Anstieg der Stromnachfrage bewältigt werden könnte.
[3] https://www.gmx.net/magazine/politik/atomkraft-diskussion-laufzeitverlaengerung-36196026
[4] Leipziger Volkszeitung, „Die nukleare Spaltung Europas“, 5.11.2021