In unserem Artikel “Der Strompreis spielt verrückt” erläuterten wir unter anderem den Einfluss des Merit Order-Prinzips. An einem Fallbeispiel veranschaulicht der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages 1), wie sich dieses Prinzip auf die Strompreisbildung auswirkt:
“In der aktuellen Diskussion über hohe Energiepreise spielt „Merit Order“ eine zentrale Rolle. Dieser englische Ausdruck lässt sich mit „Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit“ übersetzen. Er beschreibt in der Ökonomie, wie sich an der (Großhandels-)Strombörse Handelspartner finden und Preise bilden. Diese Preisbildung entspricht den ökonomischen Interessen der Marktteilnehmer. Dies verdeutlicht folgendes stark vereinfachtes Beispiel:
Ein Käufer benötigt zu einem bestimmten Zeitpunkt 5 Megawattstunden (MWh) Strom und ist bereit, bis zu 100 € pro MWh zu bezahlen. Am Strommarkt gibt es zwei Anbieter – Windkraft und Gaskraft. Die Produktionskosten des Windkraftwerks belaufen sich auf 20 € pro MWh. Es könnte bis zu 3 MWh liefern. Das Gaskraftwerk produziert für 75 € pro MWh. Es könnte ebenfalls 3 MWh liefern. Beide Kraftwerke sind nötig, um die Nachfrage zu decken. Dies wissen auch beide.
Das Gaskraftwerk wird nicht unter 75 € pro MWh anbieten, da es sonst Verluste schreibt. Das Windkraftwerk hingegen wird nicht unter 75 € verkaufen wollen, wenn der Betreiber weiß, dass „heute“ Strom zu diesem Preis verkauft werden wird – dies heute also der Marktpreis ist. Weiß er dies nicht genau, bietet er zu dem nach seiner subjektiven Einschätzung maximalen Preis und damit möglicherweise teurer als 75 € an. Bietet er aber zu teuer an, kann er seinen Strom womöglich nicht einspeisen. Legt der Käufer wiederum seinen Maximalpreis von 100 € offen, riskiert er, zu viel zu bezahlen. Damit besteht für alle Marktteilnehmer eine spekulative Unsicherheit. Die für alle Beteiligten „sicherste“ Option ist daher ein Preis von 75 €. Zusätzlich ist es im Interesse des Käufers, wenn die günstigsten Produzenten am meisten absetzen können: So entstehen Investitionen in die günstigsten Produktionsformen, was dem Käufer mittelfristig zugutekommt. Daher ist optimal, wenn das Windkraftwerk 3 MWh für 75 € liefert, das Gaskraftwerk (nur) 2 MWh (ebenfalls für 75 €).
Die Strombörse übernimmt (gegen eine Gebühr) die Aufgabe, für alle Seiten diesen möglichst vorteilhaften Handel zu ermöglichen. Im vorgenannten Beispiel muss sich das Windkraftwerk dann nicht (mehr) sorgen, dass es einen geringeren Preis erhält als das Gaskraftwerk. Auch ist sichergestellt, dass das kostengünstigste Produkt vorrangig Absatz findet. Zugleich ist der Käufer davor geschützt, Strom zu unnötig hohen Preisen abzunehmen. Aufgrund dieser ökonomischen Vorteilhaftigkeit nimmt der Markt den Service von Strombörsen in Anspruch.
Im Vergleich zu dem Handel mit Rohstoffen sind die Marktteilnehmer beim Strom weniger frei: Die jederzeitige Verfügbarkeit von Strom ist für alle Teile der Gesellschaft essentiell. Daher vermitteln Strombörsen auch bis zu wenige Minuten vor Lieferzeitpunkt Großhandelsverträge. Ferner ist die Nachfrage nach Strom immer sofort. Ebenso ist die Lieferung (Einspeisung in das Netz) immer nur sofort. Strom lässt sich – anders als Gas – nicht (in erheblichen Mengen) „auf Halde“ kaufen oder produzieren. Daher kann z. B. ein Windkraftwerk mit der Einspeisung nicht einfach warten, bis eine günstigere Marktlage besteht.
An der Strombörse bestimmen daher, wie in jedem freien Markt, Angebot und Nachfrage den Preis. Käufer und Verkäufer reichen ihre Angebote in bestimmten Zeitintervallen verbindlich ein – z. B. für eine Lieferung von 50 MWh Strom zwischen 18-19 Uhr am Folgetag. Die Strombörse führt die Angebots- und Nachfragekurve für diesen konkreten Handel zusammen. Die Höhe des Preises liegt an der Schnittstelle, an der Angebot und Nachfrage zur Deckung kommen. Dieser Preis („Markträumungspreis“) gilt dann für alle berücksichtigten Kraftwerke.
Fragt ein Käufer eine Anzahl Megawattstunden zu einem Höchstpreis nach, dann können zunächst günstige Erzeuger (z. B. von erneuerbaren Energien) diese Nachfrage decken. Reicht deren Kapazität nicht aus, um die Nachfrage zu Zeitpunkten hoher Netzlast zu decken (z. B. Morgenstunden), bringt die Börse Anbieter zum Zug, die ihren Strom zu einem höheren Preis anbieten (z. B. Gaskraftwerke). Diese Reihenfolge der stromproduzierenden Kraftwerke an der Börse stellt sicher, dass vorrangig die kostengünstigsten Erzeuger die Nachfrage decken („Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit“ oder Merit Order):”
- Wissenschaftlicher Dienst Nr. 15/22 (13. Oktober 2022)
Quellen:
- – DIHK/EFET (Januar 2020), Strombeschaffung und Stromhandel
- – Grüter/Spektrum der Wissenschaft (29. August 2022), Merit-Order-Prinzip (obige Abbildung)
- – Hirth (2. September 2022), The Merit Order Model and Marginal Pricing in Electricity Markets