Kann man die Grünen energiepolitisch (noch) verstehen?

Dipl.-Phys. Ulrich Waas*)

Nach rund 50 Jahren Beschäftigung mit der Energiediskussion muss ich die Frage mit „Jein“ beantworten.

Nach dem sprunghaften Anstieg der Ölpreise1973 wurde in einer Energiewende damals der schnelle Ausbau der Kernenergie (KE) als die Lösung angesehen. Alle Parteien im Bundestag, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Kirchen waren pro KE, die Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung sah 1977 den Bau von 50.000 MW Kernkraftwerke (KKW) bis 1985 vor, ein Stromverbrauchswachstum von 7% pro Jahr wurde als gut für Wirtschaft und die Verringerung der Arbeitslosigkeit bezeichnet. Nur ein paar „Außenseiter“ wiesen darauf hin, dass mehr darüber gesprochen werden müsse, welche „Energiedienstleistungen“ wirklich benötigt würden und wie diese technisch effizient und umweltverträglich den Verbrauchern bereitgestellt werden könnten.

Dass und wie damals selbst berechtigte Fragen vom Tisch gewischt wurden, hatte viel mit der Radikalisierung der Proteste und dann – neben anderen Themen – mit der Gründung der Partei der Grünen zu tun.

Anfang der 1980er Jahre hatte ich durchaus Verständnis für aus meiner Sicht rationale Überlegungen zu einer durchdachteren Energienutzung, die von den „Außenseitern“ kamen. Aber schon bald begannen die Grünen, das „Anti-AKW“ immer mehr zu verabsolutieren und zu einem Identitätssymbol zu machen. Es durfte nicht mehr sein, dass die Kernenergienutzung ihre Vor- und Nachteile hat wie andere Energieformen, über die man diskutieren kann und muss. Es durfte nicht mehr sein, dass es auch nur ein Argument pro Kernenergie gab. Alles musste negativ sein. Um das hinzubekommen, wurden oft abenteuerliche Argumentationen entwickelt und mit großem publizistischem Aufwand verbreitet. So z.B. auch aktuell immer wieder „beliebte“ Behauptungen, der KKW-Betrieb würde bei CO2– Emissionen nichts helfen und der Strom aus KKW sei zu teuer, obwohl die vorhandenen KKW offensichtlich nicht mehr gebaut werden müssen und als steuerlich abgeschriebene Anlagen den Strom für rund 2 ct/kWh (20 €/MWh) produzieren, während an der Strombörse die Preise jetzt oft weit über 100 €/MWh liegen.

Ich kann verstehen, dass es schwer für eine Partei ist, aus dieser Ecke wieder herauszukommen, wenn viele „Alt-Grüne“ meinen, für ihre Identität „Anti-AKW“ zu benötigen und dies über Klimaschutz und gesicherte Energieversorgung zu erträglichen Preisen stellen.

Eigentlich wäre der März 2022 mit der vielbeschworenen „Zeitenwende“ auch in der Energieversorgung eine Gelegenheit gewesen, redlich Bilanz zu ziehen zu berechtigten sowie zu lediglich konstruierten Kritikpunkten an der Kernenergienutzung. Um dann in eine ergebnisoffene Diskussion einzusteigen, wie unser Energiesystem „aufgeräumt“ werden kann. Diese Gelegenheit wurde bisher nicht genutzt. Stattdessen wurden vor allem die konstruierten Kritikpunkte gebetsmühlenartig wiederholt und damit ein rationaler Diskurs beiseitegeschoben.

Nun haben am 14.10.2022 die Grünen auf ihrem Bundesparteitag einem „Reservebetrieb“ von zwei der drei noch laufenden KKW bis zum 15. April 2023 zugestimmt, um eine Reserve gegen einen Notstand in der Energieversorgung zu haben. Danach sei aber endgültig Schluss, der Kauf von frischen Brennelementen für einen Weiterbetrieb bis 2024 würde eine „rote Linie“ für die Grünen überschreiten.

Aber kann man verstehen, woher das Datum 15. April 2023 kommt und was sich danach an der Energiekrise für den Winter 2023/24 plötzlich ändern sollte?

Von grünen Spitzenvertretern wird stereotyp gesagt, dann sei die Situation eine ganz andere – aber wodurch? Je nach Gesprächspartner und Situation gibt es zu hören:

a) Im nächsten Jahr seien wieder mehr KKW in Frankreich in Betrieb, sodass Deutschland in Phasen mit „Dunkelflauten“ wie früher Strom aus Frankreich beziehen könne.
KKW in Deutschland abschalten, da mehr KKW-Strom aus Frankreich verfügbar sein wird? Das kann eigentlich nur logisch sein, wenn die Sicherheit französischer KKW höher eingeschätzt wird als bei den deutschen KKW. Meinen die Grünen das wirklich?

b) Im nächsten Jahr werde es mehrere Terminals für Flüssiggas geben, damit könne die Versorgung der Gaskraftwerke in der Stromerzeugung wieder sichergestellt werden.
Da drängen sich ein paar Fragen auf:

  • Gegenwärtig würden die Kosten für LNG als Brennstoff in Gaskraftwerken zu einem Strompreis „am Kraftwerkszaun“ von über 200 €/MWh führen. Was bedeutet das für die Verbraucher in Haushalten und Industrie?
  • Glauben die Grünen, dass der LNG-Preis auf dem Weltmarkt im nächsten Jahr deutlich sinken wird, wenn man überhaupt so viel bekommt, wie gewünscht?
  • Bisher war Erdgas für Länder der Dritten Welt ein teilweise noch bezahlbarer Energieträger. Was passiert, wenn Deutschland mit seiner Finanzkraft den Erdgas-/LNG-Preis auf dem Weltmarkt nach oben treibt? Stromsperren in Ländern der Dritten Welt? Dort vermehrter Einsatz von Kohle? Abholzungen für Brennholz? – Wäre das werteorientierte Außenpolitik?

Nachvollziehbare Antworten auf diese Fragen habe ich von grünen Spitzenvertretern noch nicht gehört.

c) Es würden ausreichend viele ältere Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen oder nicht wie vorgesehen abgeschaltet. Das sei für ein oder zwei Jahre schmerzlich, aber eben jetzt nicht zu vermeiden. Das Klimaschutzziel werde man aber nicht aufgeben.
Immerhin sollte nicht vergessen werden, dass der so angestrebte Ersatz von KKW durch Kohlekraftwerke deutlich mehr als 10 Millionen t zusätzliche CO2-Emissionen pro ersetztem KKW und Jahr bedeuten. Greta Thunberg hat sich dazu schon geäußert, dass sie das problematisch findet. Vor allem stellt sich aber die Frage, was denn in ein oder zwei Jahren die Kohlekraftwerke ersetzen soll oder bleibt es dann noch lange bei Kohlekraftwerken?

d) Besonders wird gehofft, dass der beschleunigte Zubau von Wind und Sonne für die Stromerzeugung das Problem endgültig lösen werde. Für die Beschleunigung sollen Einspruchsrechte in Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich eingeschränkt werden.
Auch hier drängen sich wieder etliche Fragen auf:

  • Woher kommt der Gedanke, der Ersatz von KKW durch Kohle würde nur ein bis zwei Jahre dauern? Der Netto-Zubau der Windkraft im ersten Halbjahr 2022 lag bei 880 MW (ähnlich wie 2021). Von den Kohlekraftwerkskapazitäten werden gegenwärtig sehr häufig im Bereich von 20.000 MW angefordert. Wenn berücksichtigt wird, dass die Jahresstromproduktion in einem Braunkohlekraftwerk mit 1000 MW etwa so hoch ist wie in Windkraftwerken mit einer Nennleistung von 3000 MW, hieße dies rein rechnerisch bei der gegenwärtigen Zubaurate, dass in etwa 17 Jahren die Hälfte der Kohlekraftwerkskapazität durch Windkraftausbau ersetzt werden könnte. (Das sind in dem Zeitraum pro ersetztem KKW kumuliert schon fast 200 Millionen t CO2 zusätzlich.)
  • Selbst wenn der Ausbau von Windenergie- und Solaranlagen schneller voran käme: Warum wird nirgendwo in den politischen Bekenntnissen darüber gesprochen, wie und bis wann das Speicherproblem für die volatile Stromerzeugung gelöst werden kann?
    Denn ohne Lösung des Speicherproblems stößt der Ausbau bald an Grenzen. Es gibt jetzt schon an manchen Tagen Stunden, in denen Wind und Sonne z.B. 80 % des Strombedarfs decken. Wenn das beispielsweise verdoppelt würde, müssen ohne Speicher in solchen Stunden Windenergie- und Solaranlagen abgeschaltet werden, da der Bedarf nicht vorhanden ist. Und ohne Speicher werden bei Flauten und Dunkelheit konventionelle Kraftwerke wieder einspringen müssen, da dann von Wind und Sonne wenig kommt.
  • Und wie rasch kann eigentlich die politisch gewünschte Beschleunigung des Ausbaus von Windenergie- und Solaranlagen Wirkung zeigen? Wie funktioniert die Einschränkung der Einspruchsrechte, nachdem insbesondere die Grünen sich seit vielen Jahren um den Ausbau der Einspruchsrechte von Verbänden und Bürgerinitiativen gegen Industrieprojekte bemüht haben? Was ist angesichts der in Deutschland in den letzten Jahren zurückgefahrenen Produktionskapazitäten für Wind und Sonne, des Fachkräftemangels und der internationalen Lieferkettenproblematik überhaupt an Beschleunigung möglich?

Und diese Fragen sollen bis zum April 2023 alle befriedigend geklärt und „sozialverträglich“ (s. Diskussion um 1980) ausdiskutiert sein? Wer glaubt denn sowas?

So wie das Spitzenpersonal der Grünen die Antworten auf diese Fragen offen lässt und lieber auf Diskussionen zur Endlagerung oder irgendetwas anderes bei der Kernenergie ausweicht, scheinen sie zu wissen, dass sie da ein Problem haben. Und – trotz Augen zu und durch – sehen sie wohl auch das Problem mit ihren früheren Versprechungen, dass ein rein regeneratives Energiesystem schnell und kostengünstig machbar sei. (z.B. Jürgen Trittin 2004: “Es bleibt dabei, dass die Förderung erneuerbarer Energien einen durchschnittlichen Haushalt nur rund 1 Euro im Monat kostet – so viel wie eine Kugel Eis.”)

Ist es da klug, die (CO2-armen) „Brücken“, die man hat, in aller Hast zu verbrennen, bevor die neuen Brücken, die man sich wünscht und für sympathischer hält, ihre ausreichende Funktionsfähigkeit in der Praxis bewiesen haben? Und ist es klug für eine Partei, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit eine Energiekrisendiskussion im Herbst 2023 zu riskieren, nachdem sie vorhandene „Brücken“ verbrannt hat?

Und ist es klug, berechtigte Fragen zur Energieversorgung in ähnlichem Stil vom Tisch zu wischen, wie es vor 40 Jahren diejenigen taten, gegen die man damals demonstriert hat?

Wäre es nicht klüger, nach den gravierenden Erschütterungen in der Energieversorgung das Jahr 2023 endlich für eine offene und redliche Debatte zu nutzen, damit man einen realistischen Blick für den zeitlichen und finanziellen Aufwand für die gewünschte Energiewende bekommt? Und so lange die vorhandenen „Brücken“ erhält, bis die „neuen Brücken“ funktionieren?

*)Dipl.-Phys. Ulrich Waas war von 1975 bis 2012 bei KWU und ihren Nachfolgeunternehmen mit den Aufgabengebieten: Inbetriebsetzung von Druckwasserreaktoren, Grundsatzfragen in der Öffentlichkeitsarbeit, Sicherheitsberichte, technische Vertretung in Verwaltungsgerichtsverfahren, Sicherheitsfragen und deterministische Sicherheitsanalysen für DWR.

von 1998 bis 2012 Mitglied im Kerntechnischen Ausschuss

von 2005 bis 2016 Mitglied im Ausschuss Anlagen- und Systemtechnik der Reaktor-Sicherheitskommission

von 2010 bis 2021 Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission