Aufruf in der Schweiz: Stoppt die Energiewende

Der jährliche Strombedarf der Schweiz bewegt sich um die 62 Terawattstunden(TWh). Je nach Szenarien wird der Strombedarf bis 2050 auf 90 TWh ansteigen. Die Kernenergie trägt rund 35% zur Schweizer Stromversorgung bei. Die Kernenergienutzung ist auch in der Schweiz umstritten. Sollten die vorgesehenen  Abschaltzeitpunkte für Kernkraftwerk Beznau (2028), Gösgen (2038) und Leibstadt (2043) bestehen bleiben, dann würden weitere 23 TWh fehlen. Ein Importbedarf von 15 TWh sei vorstellbar. Seit längerer Zeit schon werden Bedenken über die künftige Sicherheit der Schweizer Stromversorgung geäußert.

Der nun folgende Aufruf “Stoppt die Energiewende” stammt von Beat Gygi, erschienen in der WELTWOCHE 5/2023 am 2. Februar. In Teilen ist der Aufruf auch auf Deutschland übertragbar:

 

Die «Energiestrategie 2050» des (Schweizer) Bundes läuft auf eine gewaltige Stromlücke hinaus. Die Diskussion über Klimaziele und Kernkraft muss neu gestartet werden.

Die Erfolgsmeldung aus der Energiewelt wirkt eindrücklich: Ein Gewerbebetrieb in Hasle-Rüegsau errichtet eine Solarstrom-Fotovoltaikanlage, die im Urteil von Branchenexperten als Privatinitiative in der Schweiz bisher einzigartig ist. Strom für 550 Haushalte, 1,9 Gigawattstunden pro Jahr – es scheint voranzugehen auf der Schiene der Energiewende. Ins Bild passt, dass der Bund Ende November meldete, die Stromversorgungssicherheit der Schweiz sei doch nicht gravierend gefährdet. Die beschlossenen Maßnahmen hätten «einen signifikanten Beitrag zur Energieversorgung im Winter» geleistet. Glück mit Wetter und Wasserhaushalt war auch dabei.

Die Behörden sind in Schwung: Soeben publizierte der Bundesrat die Wärmestrategie 2050: Der Wärmesektor, der rund die Hälfte des schweizerischen Energieverbrauchs ausmacht, soll bis 2050 CO2-neutral werden. Heizung und Warmwasseraufbereitung in Gebäuden sowie Prozesswärme in der Industrie seien dann vollständig mit erneuerbaren Energien zu decken.

Die Wärmestrategie ist die jüngste Tat des Bundes auf der Linie seiner «Energiestrategie 2050», die auf dem 2017 vom Volk angenommenen Energiegesetz beruht und folgende Ziele hat: den Energieverbrauch senken, die Energieeffizienz beim Anwenden erhöhen, die erneuerbaren Energien fördern, den Verbrauch der Fossilen abstellen und den Bau neuer Kernkraftwerke verbieten.

Bundesräte bringen Bewegung

Jetzt rumort es jedoch auf oberster Ebene: Bundesrat Albert Rösti, neuer Chef des Energie- und Verkehrsdepartements, erregte vorige Woche als Gastredner am Schweizer Stromkongress Aufsehen mit Bemerkungen zur Laufzeitlänge der Kernkraftwerke und zur Technologieoffenheit, die der Kernkraft künftig neue Chancen einräumen könnten. Und Tage später sagte Volkswirtschaftsminister Bundesrat Guy Parmelin im Interview mit der Sonntagszeitung, dass neue nukleare Technologien interessant sein könnten.

Das im Energiegesetz und in der «Energiestrategie 2050» enthaltene Verbot für neue Kernkraftanlagen könnte also neu zur Debatte gestellt werden. Und wenn man das Ganze genauer anschaut, ist das gesamte Paket der Energiewende reif fürs Überdenken und gründlichere Diskutieren. Das beginnt bereits beim Klimaziel «Netto null 2050». Der Konstanzer Physikprofessor Gerd Ganteför weist auf eine ganze Serie von wissenschaftlichen Publikationen, auch aus dem Weltklimarat, hin, die darauf hindeuten, dass etwa die Hälfte der CO2-Emissionen von den Pflanzen und den Ozeanen aufgenommen werden. Die Natur erledigt den einen Teil, jetzt muss die Debatte starten, das Klimaziel in der Politik auf die Hälfte zurückzunehmen, «Energiewende light».

Solarpanels liefern bei Sonnenzeiten fleißig Strom, aber im Winter und in dunklen Phasen nicht.

Klar, vorläufig gibt sich das bisher von Simonetta Sommaruga geleitete Energiedepartement noch unbeirrt. In ihren Berichten betont die intensiv mit Beratungsfirmen wie Prognos, TEP Energy oder Infras kooperierende Verwaltung, die im Energiegesetz vorgegebenen Verbrauchs- und Produktionsrichtwerte für 2020 seien erreicht worden, längerfristig brauche es aber zusätzliche Anstrengungen. Die «Energieperspektiven 2050+» des Bundesamts für Energie (BfE) zeigten auf, «dass die Schweiz ihre Energieversorgung bis 2050 im Einklang mit dem Netto-null-Ziel umbauen und gleichzeitig die Versorgungssicherheit gewährleisten» könne. Anders gesagt: Vorwärts machen auf der eingeschlagenen Spur!

Das heißt: möglichst viele Solarpanels montieren, Windräder in die Landschaft stellen, Ölheizungen ersetzen durch Elektroanlagen, Verbrennungsmotoren durch E-Autos. Das heißt auch subventionieren: 10 000 Franken gibt es vom Staat, wenn eine Öl- oder Gasheizung herausgerissen und durch eine strombasierte Wärmepumpe ersetzt wird, vielleicht weit vor Ende der Lebenszeit. Eigentlich kommt das Geld ja nicht vom Staat, sondern vom Steuerzahler oder Nachbarn nebenan. Bei der steuerlichen Subventionierung von E-Autos läuft es ähnlich, da bezahlen die Verbrennertypen via Mineralölsteuer für die Verkehrsinfrastruktur.

Halt, bei der Versorgungssicherheit leuchtet die Alarmlampe auf. Die Energiepolitik läuft darauf hinaus, dass die durch Vorschriften und Subventionen forcierte Elektrifizierung den Stromverbrauch langfristig massiv erhöht. Gemäß der Studie «Energiezukunft 2050», die der Branchenverband VSE zusammen mit der ETH-Forschungsanstalt Empa erarbeitet hat, dürfte der Stromverbrauch von heute 62 Terawattstunden (TWh) bis 2050 auf 90 TWh steigen, je nach Szenarien. Gleichzeitig verringert das Verbot neuer Kernkraftwerke das künftige Stromangebot im Inland Schritt für Schritt. Mühleberg machte 2019 den Anfang. Es entstand im vergangenen Jahrzehnt ein Importbedarf von 3 bis 5 TWh.

Wackliger Solarstrom

Energieexperte Samuel Leupold, Verwaltungsrat bei den Energieunternehmen Enel, Schlumberger und Coria, sagte kürzlich in einem Vortrag, das echte Problem komme erst: dann, wenn die sechzigjährigen Geburtstage der Kernkraftwerke Beznau (2028), Gösgen (2038) und Leibstadt (2043) Abschaltzeitpunkte sein könnten, dann würden weitere 23 TWh fehlen. Das ist seiner Ansicht nach die bedrohlichste Phase für die Schweizer Energieversorgung, die zu einer grossen Auslandabhängigkeit führen könnte, ein Importbedarf von 15 TWh sei vorstellbar.

Die Energiestrategie des Bundes sieht vor, dass die Erneuerbaren die durch die Kernkraft hinterlassene Lücke schließen sollen – von heute rund 3 TWh soll der Solarbeitrag bis 2035 auf 7 bis 11 TWh steigen. In der Studie «Energiezukunft 2050» wird die Fotovoltaik für 2050 mit einer Produktion von 18 bis 28 TWh eingesetzt. Stabil ist diese Energieform aber nicht. Solarpanels liefern bei Sonnenzeiten fleißig Strom, alle gleichzeitig, oft zu viel fürs Netz, aber im Winter und in dunklen Phasen nicht. Dieser Flatterstrom ist unbeeinflussbar, zu wenig zuverlässig für große Teile der Industrie. In Beraterstudien des Bundesamts für Energie bringt man das Argument, die Windenergie sei gerade dann stark, wenn Solar schwach sei. Die Erfahrungen mit bisweilen wochenlangen Dunkelflauten (Ausfall von Sonne und Wind) etwa in Deutschland widerlegen dieses Argument.

Der Ausgleich für das Auf und Ab mit dem Wetter soll laut Bund vor allem aus dem Ausland kommen, auch über Erdgas oder später Wasserstoff. Hohe Erwartungen werden an ein Stromabkommen mit der EU geknüpft – mit der optimistischen Annahme, dass es immer handelswillige Nachbarn gibt, die selber genug Energie dafür haben. Verbreitet ist auch das Argument, Schwankungen könne man ausgleichen mit Zwischenspeichern, also mit Speicherseen, mit Batterien oder auch mit der Benutzung der Flotte der Elektroautos im Land als Puffer. Nimmt man nun die europaweit führende Riesenbatterie Big Battery Lausitz mit ihren gut 50 MWh, dann bräuchte es 100 000 Stück, um eine Lücke von 5 TWh zu überbrücken. Und die E-Fahrzeuge? Bei der heutigen Dichte von Autos und Ladestationen im Land ist das noch kein Thema, aber der Gedanke, wie weit man sich vom Netz vereinnahmen lassen will, gewinnt an Bedeutung, die Frage nach staatlicher Kontrolle, nach dem Auto ohne Autonomie.

Viel Hoffnung wird in den Studien des Bundes wie von VSE/Empa schließlich mit dem Wasserstoff verbunden. H2 erscheint wie ein Retter, ein Ersatz für fossile Energie: lagerbar, handelbar, respektabler Energieinhalt, ein Speicher und in Form synthetischer Treibstoffe in Motoren verbrennbar fast wie das verschrieene Erdöl und Erdgas. In den Studien ist von einem künftigen europäischen Wasserstoff-Backbone-Netz die Rede, einer Art Energiekanal, an den man sich dereinst andocken und quasi dort tanken kann. Ein Hoffnungsträger mit Betonung auf Hoffnung. Zumal die Auftrennung von Wasserstoff und Sauerstoff, die Abkühlung, Handhabung, Aufbereitung für die Verbrennung heute etwa drei Viertel der eingesetzten Energie aufzehren.

Eine Forschergruppe der Empa und der EPFL um den Chemieprofessor Andreas Züttel legte 2022 in einer Untersuchung dar, dass ein Wasserstoff-Regime mit Produktion durch Solarkraft, plus Batterie in jedem Haus, ein Wasserstoff-Speichervolumen von 25 Gotthard-Basistunneln bräuchte und die Energiekosten von heute 3000 Franken pro Kopf und Jahr auf 4400 Franken triebe. Ein alternatives Regime mit dem Hauptgewicht auf grünen synthetischen Treibstoffen würde die zwölffache Solarfläche der heute verfügbaren Dachfläche notwendig machen. Die Kosten pro Kopf stiegen auf 9600 Franken. Würde man dagegen voll auf Elektrifizierung setzen, bräuchte es neben der dreifachen Schweizer Dachfläche für Solar unter anderem dreizehn zusätzliche Pumpspeicherwerke der Grösse von Grande Dixence – ein Ding der Unmöglichkeit.