Die Eisbedeckung der Arktis: Anomalie oder doch nur Normalität

Meldungen über das Abschmelzen des Arktis-Eises kommen mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit. Dazu Presseverlautbarungen von 2007 und 2022:

DIE WELT schrieb am 13.12.2007: „Ein Team internationaler Klimaforscher und Wissenschaftler der NASA behaupten, dass der arktische Sommer bereits 2013 eisfrei sein wird.“ Nahezu wortgleich auch der SPIEGEL am gleichen Tage.

Diese Prognose traf bekanntlich nicht ein. Also bedurfte es einer „Verschiebung“ der Eisfreiheit.

In der Pressemeldung des Alfred-Wegener-Institutes vom 02.02.2022 hieß es daher: „Noch vor 2050 – so zeigen aktuelle Modellrechnungen – könnte die Arktis im Sommer komplett eisfrei sein, in vereinzelten Jahren möglicherweise bereits vor 2030.“

Diese Formulierung im Konjunktiv lässt an wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit zweifeln, zumal die Schwankungen der Meereseis-Fläche im Laufe eines Jahres bekannt und nichts Ungewöhnliches sind, wie die Grafik zeigt:

Meereisausdehnung in den letzten Jahren für die nördliche Hemisphäre. Der grau schattierte Bereich entspricht den Klimamittelwerten plus/minus Standardabweichungen. Man beachte die grüne (2022) und die (2023) Linie im Sommer, keine auffällige Abweichung.

Das arktische Meereis ist im September am niedrigsten, und seine durchschnittliche Ausdehnung in diesem Monat ist eine nützliche Kennzahl, um den Rückgang des arktischen Meereises während der aktuellen Periode der globalen Erwärmung zu messen. In den 1980er und 1990er Jahren war die arktische Meereisausdehnung (SIE sea-ice extent) im September moderat rückläufig (Abbildung). Nach der Klimawende von 1997, die eine ziemlich abrupte globale atmosphärische Neuordnung mit sich brachte, trat die Arktis in eine Periode raschen Wandels ein, die als Arktische Verschiebung bezeichnet wird.

Wie Andy May [1] berichtet, deuten neuere Arbeiten darauf hin, dass bis zu 60 % des Rückgangs der SIE im September seit 1979 auf Veränderungen in der atmosphärischen Zirkulation zurückzuführen sein könnten [2]. Darüber hinaus reduziert die Persistenz der arktischen Sommerbewölkung die Eis-Albedo-Rückkopplung erheblich [3]. Die Erkenntnis, dass die interne Variabilität ein wichtigerer Faktor ist als erwartet, erklärt, warum sich die Rückgangsrate der arktischen Sommer-SIE seit 2007 entgegen aller Erwartungen so stark verlangsamt hat.

September Ausdehnung des arktischen Meereises seit 1979. Der blaue Bereich zeigt die Periode des schnellen Wandels an, die als Arktischer Wandel bezeichnet wird.

Allerdings hat sich die Pause (Hiatus) nun auf 17 Jahre verlängert und die Wahrscheinlichkeit ist auf 10% gesunken. Mit anderen Worten, es besteht eine 90-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass die Vorhersagen der Klimawissenschaftler über das arktische Meereis falsch waren. Wenn der Stillstand bis 2027 anhält, wird er statistisch signifikant (p<0,05 oder weniger als 5 %) und nicht mehr zufällig erklärbar.

Ein Grund mehr für das Alfred-Wegener-Institut, neue Erkenntnisse über den Grund der „wechselhaften“ Ausdehnung des arktischen Meereseises zu gewinnen.

Am 3. August 2023 startete das Forschungsschiff Polarstern mit einer Wissenschaftscrew des Allfred-Wegener-Instituts vom norwegischen Tromsø aus erneut in Richtung Nordpol, um, wie es hieß, die Arktis im Wandel zu erforschen. Die letzte Expedition war vor zwei Jahren. Ende September kehrte es zurück. Was brachte die Expedition Neues?

Quelle: Alfred-Wegener-Institut

Die ersten Forschungsergebnisse waren überraschend: Das Meereseis des zentralen Arktischen Ozeans schmolz im August und September nicht so weit ab wie erwartet, es war auch dicker als in den Jahren zuvor, hieß es in einer Verlautbarung des Instituts. „Es fehlten die Schmelztümpel, die Sedimenteinschlüsse, die Presseisrücken, die sonst charakteristisch für das arktische Meereis im Sommer sind.“

Großräumige Messungen vom Helikopter aus ergaben: „Die Dicke des ebenen Meereseises betrug auch Anfang September noch 1,2 Meter – mehr als im Sommer 2020 oder zum größten Meeresminimum 2012.“

Meeresphysiker Dr. Krumpen erklärt die beobachtete Anomalie so: „Wo in den letzten Jahrzehnten die Schollen vorwiegend von den sibirischen Schelfen in das Eurasische Becken drifteten, kam das Eis dieses und auch letztes Jahr aus dem kanadischen Becken, ohne Kontakt zum flachen Schelf. Das ist ein ungewöhnlicher Verlauf der Transpolardrift.“ Die Ursache beruht nach Ansicht des Wissenschaftlers vermutlich auf einem Phänomen von ungewöhnlichen stabilen Tiefdruckgebieten, die den Sommer über das Eis auf dem sibirischen Schelf zusammenhielt und verknüpft war mit einer Zufuhr kalter Polarluft.

Weitere Einblicke in die Expedition können Interessierte bereits zum Jahreswechsel bekommen: Eine Dokumentation, produziert von UFA Documentary, mit dem Arbeitstitel ARCWATCH – HOFFNUNG IM EIS wird am 29. Dezember um 21.45 Uhr im Ersten ausgestrahlt und in der ARD-Mediathek verfügbar sein.

[1] https://andymaypetrophysicist.com/2023/10/04/climate-scientists-admit-they-have-a-90-chance-of-being-wrong-about-arctic-sea-ice/?mc_cid=b9760b4db0

[2] Ding, Q., et al., 2017. Nat. Clim. Chang. 7 (4), pp.289–295. doi.org/10.1038/nclimate3241

[3]  Sledd, A. & L’Ecuyer, T.S., 2021. Front. Earth Sci. p.1067. doi.org/10.3389/feart.2021.769844

[4] Swart, N.C., et al., 2015. Nat. Clim. Change, 5 (2), pp.86–89. doi.org/10.1038/nclimate2483