„Deutsche Wirtschaftspolitik sei beispielslos und utopisch“

Unter dem Titel „Wir Geisterfahrer“ befasste sich Prof. Hans-Werner Sinn in der FAZ vom 21.11.2024 mit der deutschen Krise und die nötige Kurskorrektur der deutschen und europäischen Klimapolitik. Die wichtigste Erklärung der jetzigen Krise der deutschen Industrie sieht Sinn auf dem Energiesektor, speziell der Klimapolitik. Unter dem Druck von EU-Verordnungen und EU-Direktiven, aber auch durch eigenen Entscheid (in der zeitlichen Zielsetzung) habe sich Deutschland einem besonders ambitionierten Dirigismus verschrieben. Die deutsche Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre sei „nicht nur beispielslos sondern auch utopisch gewesen“. Zu den grünen Technologien heißt es in seinem Artikel:

„Wie blindwütig die deutsche Politik voranschritt, sieht man daran, dass sie selbst noch während des Ukrainekrieges und nach der Zerstörung der deutschrussischen Erdgasleitung weitere Kohlekraftwerke außer Betrieb nahm und die restlichen Atommeiler demolierte. Dass der deutsche Kurs nicht möglich ist, zeigt auch ein Blick auf die geplante Ausweitung des Wind- und Solarstroms, der fast die gesamte Anpassungslast bewältigen soll. Er hatte im vergangenen Jahr nach den offiziellen Angaben der Arbeitsgemeinschaft der Kraftwerksbetreiber (AG Energiebilanzen) nur einen Anteil von knapp 7 Prozent am Primärenergieverbrauch der Bundesrepublik, während die grüne Energie insgesamt bei knapp 18 Prozent lag. Wohlgemerkt sieben Prozent und nicht etwa 50 oder gar 60 Prozent, wie es von interessierter Seite immer wieder gesagt wird. Es geht nämlich nicht um den Anteil am Strom, der selbst nur ein Fünftel des Ganzen ist, sondern um den Anteil am gesamten Energieverbrauch, und der wird überwiegend durch Heizungen, Prozesswärme und Verbrennungsmotoren erklärt.

Mit grünen Technologien kann man einiges erreichen. Dennoch ist der zurückzulegende Weg so extrem weit, dass man ihn unmöglich in zwanzig Jahren bewältigen kann, ohne die Industrie noch weiter abzuwürgen. Sicher, man kann argumentieren, dass die sieben Prozent auch nicht stimmen, weil man den Primärenergieverbrauch des grünen Stroms nicht einfach so zum Kohleverbrauch addieren dürfe. Technisch liegt der Strom auf einer höheren Aggregatstufe als chemische Energie und ist insofern wertvoller. Aber der gedanklichen Aufblähung des Anteils durch Wirkungsgrade und Wärmepumpen kann man entgegenhalten, dass der grüne Strom eigentlich einen rechnerischen Abschlag verlangt, weil er sehr unstet ist, sich kaum regeln lässt und deshalb technisch längst nicht so werthaltig ist wie Strom aus fossilen Quellen.

Der grüne Strom braucht als Partner zwingend regelbaren konventionellen Strom zur Abdeckung der Dunkelflauten, und zwar unabhängig davon, wie viele Solarpaneele und Windräder installiert sind. Die doppelten Fixkosten für grüne und traditionelle Anlagen sind der Hauptgrund dafür, dass Deutschland so ziemlich die höchsten Strompreise der Welt hat. Es ist eben sehr schwierig, den grünen Flatterstrom, der aus Wind und Sonnenlicht gewonnen wird, auf der Zeitachse in jene Perioden zu verschieben, während derer er gebraucht wird. Das gilt insbesondere für das Unterfangen, diesen Strom im Sommer einzusammeln (Stichwort: Energiespeicher) und ihn während der winterlichen Dunkelflauten zur Verfügung zu stellen. Wirtschaftlich auch nur halbwegs tragfähige Möglichkeiten, die saisonalen Differenzen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Strommarkt mit Speichern zu überbrücken, sind nicht in Sicht.“